Indiana verscheuchte den Gedanken. Die Kargheit der Land schaft, die er sah, war das Werk von Menschen; die Naturkata strophe, die ein Überleben auf diesen Inseln nur noch für eine sehr begrenzte Anzahl von Menschen möglich machte, die Folge des zügellosen Raubbaus, den die früheren Bewohner dieser Insel mit ihrer Heimat betrieben hatten.
Der wirkliche Grund für Indianas Unbehagen war ein anderer. Sein ganzes bisheriges Leben hatte er der Aufgabe gewidmet, die Geheimnisse versunkener Kulturen zu lösen, die Rätsel vergessener Zivilisationen zu ergründen, den manchmal gar nicht so feinen Staub der Jahrtausende wegzuschaufeln, der sich über die Vergangenheit gelegt hatte. Aber auf jener namenlosen Insel am Ende der Welt war er zum ersten Mal auf etwas gestoßen, das besser für alle Zeiten vergessen geblieben wäre.
Vielleicht war es nicht immer gut, in den Geheimnissen der Vergangenheit herumzustochern, und vielleicht hatten die Mächte, die das Schicksal lenkten, manchmal gute Gründe, etwas in Vergessenheit geraten zu lassen. Sein Alptraum war nicht Wahrheit geworden, zumindest diesmal nicht. Aber es hatte wahrlich nicht viel gefehlt.
«Ist das Professor Grisswald da vorne?«drang Franklins Stimme in seine Gedanken.
Indiana nickte, ohne zu der gebeugten Gestalt fünfzig Schritte entfernt mehr als einen flüchtigen Blick hinüberzuwerfen. Grisswald schien sie bisher nicht bemerkt zu haben, obwohl das halbe Dutzend Eingeborene, das um die Ausgrabungsstelle herumstand, die Arbeit niedergelegt hatte und ihnen neugierig entgegensah.
«Ich weiß, daß es wahrscheinlich überflüssig ist«, begann Franklin in beinahe verlegenem Tonfall,»aber trotzdem. Sie wissen, daß alles — «
«— was ich gesehen und erlebt habe streng geheim ist«, unterbrach ihn Indiana. Die Verlegenheit auf Franklins Gesicht vertiefte sich, und Indiana lächelte matt.»Keine Sorge, ich werde niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verraten. Ganz davon abgesehen, daß mir ohnehin keiner glauben würde.«
Franklin sagte dazu nichts, aber Indiana spürte, daß ihn diese Worte mit ungeheurer Erleichterung erfüllten. Er fragte sich, ob Franklin wohl wirklich begriffen hatte, welcher Gefahr sie gegenübergestanden hatten. Wahrscheinlich nicht. Und wahrscheinlich war das auch gut so. In kurzer Zeit schon würde er anfangen zu vergessen, was er erlebt hatte, und spätestens in ein paar Jahren, das wußte Indiana, würde er jeden Eid schwören, daß er und seine Mannschaft und ein leicht verrückter Professor aus New York tatsächlich nichts anderem als einer Verschwörung der Nazis auf die Spur gekommen waren und eine in aller Stille entwickelte Geheim waffe ausgeschaltet hatten. Der menschliche Geist verfügt über eine erstaunliche Fähigkeit, Dinge zu verändern, die er nicht begriffen hat oder nicht begreifen wollte.
«Aber etwas müssen Sie mir dafür versprechen, Franklin«, sagte er.
Franklin sah ihn fragend an. Er schwieg.
«Kümmern Sie sich um Ganty und die Eingeborenen.«
Franklin antwortete immer noch nicht, aber nach einigen Sekunden nickte er, und Indiana wußte, daß keine weiteren Worte nötig waren. Keiner von ihnen hatte wirklich herausbe kommen, wie es Ganty gelungen war, das Vertrauen der Langohren zurückzugewinnen. Aber er hatte es geschafft, und er war noch am selben Abend mit einem Beiboot der HENDERSON in See gestochen, um der Flotte aus Schilfbooten zu folgen und sie in eine neue Heimat zu führen. Nicht hierher. Ohne die magischen Kräfte des Kristalls, der uner reichbar tief auf dem Meeresgrund lag, hätten die zerbrechli chen Schilfboote keine Chance gehabt, die Distanz von mehreren hundert Seemeilen zu überwinden. Aber es gab eine Anzahl kleiner, unbewohnter Inseln, die auf keiner Seekarte verzeichnet waren und die in Reichweite der Flotte lagen. Indiana war überzeugt davon, daß es Ganty gelingen würde, das heimatlose Volk zu einer dieser Inseln zu bringen. Seine Bitte, sich um ihn zu kümmern, bedeutete nicht, daß Franklin sich auf die Suche nach dieser Insel machen sollte; ganz im Gegenteil. Er würde vor allem dafür sorgen, daß auch niemand anders dies tat.
«Ich verspreche es«, sagte Franklin nach einigen Sekunden doch noch.»Aber dafür müssen Sie mir eine Frage beantwor ten, über die ich schon seit drei Tagen nachdenke, Dr. Jones.«
«Ja?«
«Versprechen Sie, sie ehrlich zu beantworten?«
«Wenn ich es kann.«
«Woher haben Sie eigentlich gewußt, daß er die HENDER-SON nicht wirklich zerstören konnte?«
Jetzt war es Indiana, der einige Sekunden schwieg und an Franklin vorbei ins Leere starrte. Dessen Frage überraschte ihn nicht. Auch er hatte in den letzten Tagen oft darüber nachge dacht, ohne zu einer wirklich befriedigenden Antwort zu kommen.»Ich habe es nicht wirklich gewußt«, gestand er schließlich.
«Sie meinen also, Sie haben mein Schiff und seine Besatzung ganz bewußt aufs Spiel gesetzt. «Was er in Franklins Stimme hörte und in dessen Augen sah, das war kein Zorn, nicht einmal Vorwurf.
Indiana lächelte matt.»Im Grunde war es Nancy Barlowe, die mich darauf gebracht hat«, sagte er.»Sie hat erzählt, wie man Jonas an Bord des U-Bootes gebracht hat.«
«Und?«
«Wörtlich hat sie gesagt, man hätte ihn an Bord getragen«, fuhr Indiana fort.»Sandstein war jedesmal zu Tode erschöpft, wenn sie den Kristall benutzte. Wissen Sie, Franklin, was immer dieses Ding wirklich war, ich glaube nicht, daß es lebendig in dem Sinne war, in dem wir das Wort benutzen. Es hat dem, der es benutzte, gewaltige Macht verliehen, aber es hat ihn auch aufgezehrt.«
Franklin schwieg eine geraume Weile, und es war ein sehr erschrockenes Schweigen.»Und wenn Sie sich geirrt hätten?«
«Dann wären wir beide jetzt nicht hier«, antwortete Indiana ganz leise und sehr ernst.»Und vielleicht gäbe es dann dieses Hier schon gar nicht mehr.«
Franklin lachte nervös.»Jetzt übertreiben Sie.«
Darauf antwortete Indiana nicht mehr. Mit einem vieldeutigen Lächeln wandte er sich um und ging.
Die Gestalt, die über der flachen Grube am Strand hockte, war tatsächlich Grisswald. Als Indiana ihm auf zwei Schritte nahe gekommen war, blickte er endlich von seinem Fund auf, wandte den Kopf, und ein halb überraschter, zugleich erfreuter wie auch ein wenig zorniger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.»Dr. Jones!«rief er.»Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, Sie jemals wiederzusehen! Wo um alles in der Welt haben Sie sich herumgetrieben?«
Er sprang aufgeregt auf die Füße und gab Indiana nicht einmal Gelegenheit zu antworten, sondern redete weiter, wobei er mit aufgeregten Gesten auf das Loch hinter sich zeigte und seine Stimme vor Entdeckerfreude und Stolz zitterte:»Wissen Sie, Jones, während Sie wahrscheinlich wieder einmal irgend welche nichtsnutzigen Abenteuer erlebt haben, ist mir eine wichtige wissenschaftliche Entdeckung gelungen.«
«So?«fragte Indiana.
Grisswald nickte heftig.»Ja. Ich bin noch nicht ganz sicher, aber ich glaube, wir haben ein Grab gefunden. Ein sehr sonderbares Grab.«
Indiana ging an ihm vorbei und beugte sich neugierig vor. Die Grube war knietief, anderthalb Meter breit und knapp drei Meter lang, und alles, was er entdecken konnte, waren feuchte Erde und ein paar weiße Knochensplitter. Fragend sah er Grisswald an.»Wir müssen den Fund natürlich noch genauer untersuchen und im Labor analysieren«, fuhr Grisswald fort,»aber wenn es sich dabei tatsächlich um ein menschliches Skelett handelt, dann müssen die Ureinwohner dieser Insel völlig anders ausgesehen haben als diese Menschen dort. «Er deutete auf die Eingeborenen hinter sich.»Ich weiß, es ist eine gewagte Theorie, aber ich glaube beinahe, daß sie nicht von hier stammten, sondern aus einem ganz anderen Teil der Welt gekommen sind. «Seine Stimme wurde genauso wie das Glitzern in seinen Augen immer aufgeregter.»Stellen Sie sich nur vor, Dr. Jones — vielleicht lösen wir sogar das Geheimnis der Osterinseln.«