»Das ist eine Messer-, keine Schusswunde«, stellte der Arzt richtig. »Und sein Name lautet Smith. Im Übrigen war ich dabei, als der Streit im Orchid anfing. Wäre ich nicht dort gewesen, hätte er mich heute Morgen nicht mehr zum Teufel wünschen können.«
Der Sergeant langte unter Indys aufgeknöpftes Hemd und wollte gerade den Verband anheben, als ein anderer Soldat Faye durch den Gang ins Zimmer schleppte. Kapitän Snark folgte ihnen dichtauf.
»Bringen Sie sie hierher zurück«, kommandierte Snark. »Nein«, kreischte Faye. »Dieser Pirat hat mich entführt und will mich als Prostituierte verk -«
Der Sergeant verpasste Faye einen Schlag mit dem Handrücken, so fest, dass ihre Unterlippe aufplatzte. Einen Augenblick lang wankte sie, der seidene Morgenrock begann, von ihren Schultern zu gleiten, und Indy dachte, sie würde ohnmächtig werden. Dann fing sie sich, wischte sich das Blut vom Mund und bedachte den Sergeant mit einem kalten Lächeln. »Ich hatte gehofft, Sie wären gekommen, um mich zu retten«, sagte sie.
»Bitte den Mund halten«, sagte er in schwerfälligem Englisch. »Du gibst eine gute Hure ab. Ich nehme dich nicht mit.« »Domo arrigato«, bedankte sich Snark und bedachte den Sergeant mit einer leichten, kaum merklichen Verbeugung. Der Sergeant packte Indys Unterkiefer mit seiner muskulösen Hand und drehte sein Kinn erst nach links, dann nach rechts und nahm dabei die Platzwunden und blauen Flecken in Augenschein. Indy vermied es, ihm in seine Schweinsaugen zu sehen, der stinkende Atem des Sergeants blieb ihm jedoch nicht erspart. »Dies ist nicht der gaijin, den wir suchen«, stellte der Sergeant auf Japanisch fest. »Der hier stinkt nach Gin und ist offensichtlich zu blöde, um aus dem Provinzgefängnis geflohen zu sein.« Dann stieß er Indy zurück auf die Koje, wandte sich zur Tür und befahl den Soldaten mit einem Wink, ihm zu folgen. Plötzlich blieb er stehen, packte Faye um die Hüfte und zog sie grob an seinen Körper. Er gab ihr einen übertriebenen KUSS auf den Mund, dann ließ er sie los und versetzte ihr einen Klaps auf den Hintern. Indy war aus der Koje und halb durch die Kabine, als der
Arzt ihn zu fassen bekam. »Der Streit ist es nicht wert, dafür zu sterben, mein Freund«, raunte ihm der Arzt zu, während sich ihre Schritte durch den Korridor entfernten. »Lassen Sie sie ziehen. Während der Junge in irgendeinem Schützengraben durch die Hand eines blutrünstigen chinesischen Warlords krepiert oder an einer Syphilis erblindet, weil er sich zu oft an einem von seinen Kameraden längst vergifteten Brunnen gelabt hat, werden wir auf sein lausiges Andenken im International Hotel in Tokio einen heben. Kennen Sie das Hotel?« »Allerdings«, antwortete Indy.
»Gegenüber liegt das von einer weißen Mauer umgebene Schloss des Kaisers«, meinte der Arzt. »Enten und Gänse, die friedlich im Wassergraben schwimmen. Selten, ganz selten, kann man einen Blick auf Hirohito persönlich erhaschen, einen kleinen Mann in Frack und Zylinder, der meiner Meinung nach lieber Gärtner wäre. Für einen lebenden Gott nicht gerade übertrieben ehrgeizig, was?«
Indy blickte den Arzt bewundernd an für seine Fähigkeit, mit seiner Stimme zu beschwichtigen und selbst inmitten des Chaos noch für das Schöne empfänglich zu sein. »Überrascht? Ich war nicht immer ein Wrack mit schlechten Zähnen und blausüchtiger Haut«, fuhr er fort, während er sich Faye zuwandte und ihre blutende Lippe untersuchte. »Ich habe eine ganze Reihe von Karrieren hinter mir - als Journalist, Anwalt, Arzt: Naja, eigentlich war ich nie wirklich Arzt, aber in diesen Breiten gehe ich als einer durch. Gewöhnlich habe ich an der Bar des International Hotel gehockt, Sake aus diesen kleinen Porzellantassen getrunken, mich zu meiner Kultiviertheit beglückwünscht und zugesehen, wie die Welt vorüberglitt. Ein wenig wie der Kaiser.« »Wie das?«
»Japan ist ein so verdammt kultiviertes Land, und sehen Sie sich an, in welch armseligen Händen es sich derzeit befindet. Aber das haben wir uns selber eingebrockt, oder nicht?
Wissen Sie, die Japaner haben bereits einmal auf Schusswaffen verzichtet, nachdem die Portugiesen sie vor vierhundert Jahren mitgebracht hatten. Trotzdem ist es Nippon gelungen, ebenso modern und blutrünstig zu werden wie wir anderen. Die Welt befindet sich wieder einmal im Kriegszustand, nur wissen die meisten Menschen noch nichts davon - hier hat es vor zwei Jahren angefangen, und kein Mensch schert sich darum. Nun, das wird sich ändern, mein Freund.«
Er nahm ein paar Tupfer und ein Antiseptikum aus seiner Ärztetasche.
»Das wird ein bisschen wehtun, an Ihrer Stelle würde ich es aber nicht darauf ankommen lassen, wo dieser Rohling seine Finger heute schon gehabt hat«, sagte er, während er Fayes Lippe abtupfte.
»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Indy.
»Ich bin aus meinem Traum aufgewacht«, erwiderte er. »Und habe es nicht ausgehalten. Ich wusste, was auf mich zukommt, schließlich habe ich das Geschäft, wie man Menschen wieder zusammenflickt, während des Weltkrieges als Sanitäter gelernt. Also fing ich an zu trinken, und jetzt verbringe ich meine Zeit damit, so zu tun, als praktizierte ich Medizin auf einem rostigen Eimer mit einem japanischen Schmuggler als Kapitän. Und kümmere mich um Kriegswaisen in der Mandschurei, während Snark unterwegs ist und alles an illegaler Fracht an Land zieht, was er nur auf treiben kann.«
»Sie tun nur so?«, fragte Indy, seine Wunde befühlend. »Das sagen Sie mir jetzt.«
»Naja, das meiste ist mir wieder eingefallen«, gestand er, während er mit dem Verarzten von Fayes Unterlippe zum Ende kam, die inzwischen fleckig war von Jod.
»Wie heißen Sie?«, wollte Indy wissen.
»Bryce.« Er schien ein wenig zu wachsen, als er den Namen aussprach. »Montgomery Bryce, Oxford, Jahrgang 1923.«
»Jones«, erwiderte Indy und reichte ihm die Hand.
Sie schüttelten einander die Hände.
»Ja, ich weiß«, sagte Bryce. »Ich habe Ihr Foto in der Zeitung gesehen. Bis er offiziell vorgestellt worden ist, enthält sich ein
Gentleman jedoch jeglichen Kommentars.«
Dann gab es einen Ruck, und Bryce lächelte, während er sich am Schott abstützte. »Aha, wie haben die Leinen losgemacht. Die Schlepper ziehen uns aus dem Hafen. Bald werden wir dieses stinkende Stück Land hinter uns gelassen haben.«
»Was hat Snark auf dieser Fahrt geladen?«
»So etwas vertraut er mir nicht an«, meinte Bryce.
Er kniete auf dem Fußboden, schloss seine Tasche, dann sah er Indy mit einem Blick an, aus dem eine unaussprechliche Mischung aus Entsetzen und Schuldgefühl sprach.
»Wissen Sie, Jones, was ich eben sagte, entspricht durchaus der Wahrheit«, meinte er. »Trotzdem ist es nicht die ganze Geschichte. Während ich vorgab, nicht zu sehen, wie die Mandschurei vergewaltigt wurde, verliebte ich mich in die Konkubine eines armseligen Warlords, der mit der kaiserlich japanischen Armee kollaborierte. Der Name des Mädchens war Si Huang, sie war siebzehn und das zarteste Geschöpf, das mir je begegnet ist. Das Ehrgefühl verbot ihr jedoch, ihren angestammten Platz im Leben aufzugeben; sie weigerte sich, mit mir an einen sicheren Ort zu fliehen. Der Warlord kam natürlichdahinter. Wissen Sie, was er getan hat?«
Indy schloss die Augen.
»Er hat sie umgebracht. Er hat ihr das Herz herausgeschnitten, es gekocht und unter das Schweinefleischcurry mischen lassen, das ich an jenem Abend gegessen habe.«
Der Arzt lächelte ein Lächeln, das nicht die geringste Freude ausstrahlte.
»Seitdem habe ich keinen Bissen Fleisch mehr gegessen«, sagte er und ließ seine Tasche zuschnappen. »Und abends, kurz bevor ich einnicke - das heißt, wenn ich nüchtern bin -, weht mir ein kleiner Hauch von Curry zu, dicht gefolgt von den Schrecken der Nacht.«
Die Kamikaze Maru - die Divine Wind - war seit nahezu zehn Stunden auf hoher See, als die beiden Kawasaki-Ki-10-Doppeldecker über ihrem Kielwasser am Horizont auftauchten. Indy hatte das Dröhnen der großen Sternmotoren gehört und sofort gewusst, dass sie nichts als Ärger bedeuten konnten. Er hatte in seinen Kleidern geschlafen, sodass er, um sich fertig anzuziehen, auf dem Weg aus seiner Kabine nur Hut und Jacke zu greifen brauchte. Mittlerweile dämmerte es, und die aufgehende Sonne überzog den östlichen Himmel mit einem Hauch von Bronze.