»Praktisch denken ist nicht dasselbe wie Recht haben, Mysti«, erwiderte Faye erschöpft. »Sie ist ein Mensch. Wir können sie nicht auf dem Boden eines Rettungsbootes liegen lassen.«
»Und wer soll den Babysitter für sie spielen?«, fragte Indy.
»Ich jedenfalls nicht«, sagte Mystery.
Musashi versuchte, sich zusammenzureißen, doch ihre aufgerissenen Augen verrieten ihre Angst.
»Ich gehe nicht ohne sie«, entschied Faye.
»Dann stellen wir sie doch vor die Wahl«, feuerte Indy zurück.
»Sie kann mitkommen und sich benehmen, oder wir schmeißen sie beim ersten Anzeichen von Ärger über Bord.«
»Haben Sie das verstanden?«, fragte Faye.
»Ja«, sagte Musashi.
»Dr. Jones meint es völlig ernst«, sagte Faye.
»Ich habe verstanden«, erwiderte Musashi ruhig. »Trotzdem sind Sie alle nach wie vor verhaftet.«
»Verstehst du jetzt, was ich meine, Mutter?«, fragte Mystery. »Sie benimmt sich unmöglich.«
»Dann werden wir sie eben als Frachtgut behandeln müssen«,sagte Bryce und warf einen Strick hinunter ins Rettungsboot.
»Binden Sie sie fest, dann ziehen wir sie hoch.«
Faye befestigte das Seil unter Musashis Armen, und Bryce hievte sie an Bord der Dschunke. Sie leistete sogar dann noch Widerstand, als ihre Füße schon das Deck berührten.
»Das wird nichts als Ärger geben«, prophezeite Indy, als Faye an Bord kletterte. Der Kapitän der Dschunke, ein zäher alter Bursche, der eine langstielige Tonpfeife rauchte, hatte das Schauspiel vom Quarterdeck aus verfolgt. Er amüsierte sich lautstark über Musashis aberwitziges Benehmen.
»Ich bin froh, dass wenigstens einer seinen Spaß hat«, meinte Indy.
»Er scheint zu glauben, dass sie Ihre Freundin ist, alter Knabe«, sagte Bryce, während er das Rettungsboot losmachte und seinem Schicksal überließ. »Außerdem denkt er, Sie haben mit ihr alle Hände voll zu tun. Und ich muss gestehen, da gebe ich ihm durchaus Recht.«
»Die kaiserliche Armee wird sich nicht mit einem leeren Rettungsboot zufrieden geben«, versuchte Indy Bryce' Vergnügen über die Situation zu übergehen. »Wenn sie es finden, möchte ich, dass sie glauben, wir seien untergegangen.«
Indy zog den Webley aus dem Halfter, beugte sich über die Reling und feuerte fünf Kugeln in das vorübertreibende Rettungsboot. Das Boot sank langsam bis zu seinen Schandecks, während es im Kielwasser hinter ihnen umhergewirbelt wurde.
»Davon wird sich Sokai Sensei nicht täuschen lassen«, sagte Musashi.
»Das nicht«, erwiderte Indy, während er den Webley wieder lud, »aber vielleicht gewinnen wir dadurch ein wenig Zeit. Mr. Bryce, ich schlage vor, wir reden mal ein Wörtchen mit dem Kapitän, was meinen Sie?«
Nach einer längeren und leicht hitzigen Diskussion wurde man sich schließlich einig.
»Der alte malayische Pirat, der diese Dschunke kommandiert, wollte einhundert amerikanische Dollar dafür, dass er uns in einen Hafen bringt«, berichtete Indy, als er sich wieder bei den Maskelynes auf dem Vorderdeck einfand. »Ich habe ihm alles gegeben, was ich bei mir hatte, das waren fünfunddreißig Dollar sowie ein bisschen Kleingeld.«
»War es genug?«
»Wird es wohl sein müssen«, erwiderte Indy.
»Wo genau fahren wir eigentlich hin?«
»Schanghai«, sagte Indy. »Was insofern günstig ist, als ich dort Freunde habe. Wir dürften dort irgendwann morgen Abend eintreffen. Bis dahin müssen wir es einfach ruhig angehen lassen und uns bedeckt halten.«
Faye nickte.
»Außerdem können wir Ihnen von dort eine Passage zurück nach England besorgen.«
»Wie war das, bitte?«, meinte Faye.
»Wir sind Amerikaner, Dr. Jones«, erklärte Mystery. »Mom benutzt den englischen Akzent auf der Bühne, weil die Menschen das erwarten, und weil mein Vater Engländer ist. Aber Mutter ist in Oklahoma geboren.«
»Also gut«, sagte Indy. »Dann bringen wir Sie eben zurück in die Staaten.«
»Wir gehen nicht zurück«, sagte Faye. »Wir bleiben hier, bis wir Mysterys Vater gefunden haben.«
»Aber in diesem Teil der Welt haben Sie nichts verloren«, sagte Indy. »Hier ist es gefährlich, falls Ihnen das entgangen sein sollte. Sie und Ihre Entfesslungskünstlerin werden sich noch Ihr eigenes Grab schaufeln.«
»Wir sind ganz gut zurechtgekommen«, erwiderte Faye, »bis Sie durch Zufall in die Vorstellung hineingeplatzt sind. Schließlich war die kaiserliche Armee nicht auf der Suche nach uns. Und wenn ich mich recht erinnere, waren wir es, die Ihre Haut gerettet haben, nicht umgekehrt.«
»Ich bin ganz gut zurechtgekommen«, meinte Indy.
Faye lachte.
»Nein, das sind Sie nicht«, sagte sie. »Sie standen mit einem Bein bereits wieder im Gefängnis. Und wo wir gerade beim Thema sind, weswegen hat man Sie überhaupt eingesperrt? Das haben Sie uns nie erzählt.«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Indy.
»Darauf wette ich«, meinte Faye. »Und dieser Name, den Sie sich zugelegt haben? Hätten Sie sich nicht etwas Besseres einfallen lassen können als ausgerechnet Jones? Das beweist einen ausgeprägten Mangel an Fantasie.«
»Das ist mein richtiger Name«, protestierte Indy.
»Aber nur, wenn er nicht gerade Smith lautet, oder?«
»Mutter«, bat Mystery inständig. »Bitte fang keinen Streit an.«
»Angefangen hat er«, erwiderte Faye. »Ich möchte lediglich, dass er sich klar macht, dass wir unsere Suche nach Kaspar fortsetzen werden und erwarten, den durch ihn entstandenen Schaden von ihm ersetzt zu bekommen.«
»Soll das heißen, das alles war die Wahrheit?«, fragte Indy.
»Selbstverständlich war es die Wahrheit«, sagte Faye. »Glauben Sie vielleicht, wir hätten uns das alles ausgedacht?«
»Die Geschichte war so gut«, erwiderte Indy, »dass ich dachte, sie gehört einfach zu Ihrem Auftritt. Verzeihen Sie, aber meiner Erfahrung nach waren Bühnenmagier noch nie die verlässlichsten Informationsquellen. Aber wenn das stimmt, was Sie sagen ... könnten sich daraus einige interessante Möglichkeiten ergeben. Möglicherweise wäre ich sogar geneigt, in Ihrer Nähe zu bleiben.«
»Was macht Ihre Schulter, Dr. Jones?«, erkundigte sich Mystery.
Sie war bemüht, das Thema zu wechseln. »Sie tut weh«, erwiderte Indy, streckte sich auf einem Ballen grober Leinwand aus und zog sich die Krempe seines Hutes über die Augen. Einen Augenblick lang sagte er nichts, schließlich fragte er: »Wollen Sie damit etwa sagen, Ihr Kaspar war tatsächlich auf der Suche nach Aarons Stab?«
Doch bevor Faye ihm antworten konnte, schnarchte Indy schon.
Während die Dschunke ihre gemächliche, traumähnliche Reise nach Südosten fortsetzte, gönnte Indy sich ein wenig Schlaf, um den Qualen seiner schmerzenden Schulter gewachsen zu sein. Vom Wind getrieben und begleitet allein von dem Geräusch der Segel und des Wassers, wurde die Dschunke Teil einer zeitlosen Szene, die sich während irgendeines von eintausend vorangegangenen Septembermonaten zugetragen haben mochte. Verborgen unter einem Schleier aus Geheimnis und Tradition bahnte sich die festungsähnliche Dschunke ihren Weg durch die Meerenge, die Japan vom besetzten Korea trennte. An jenem Nachmittag überquerte die Dschunke bereits das Ostchinesische Meer mit Ziel Schanghai. Obwohl sich im Osten hohe Unwetterwolken zusammenbrauten, war der Tag mild, die See ruhig, und es ging ein mäßiger Wind. Die Luft war von jener ganz eigentümlichen Helligkeit durchdrungen, die Indy nur aus dem Osten kannte,- der Tag schien grün und golden zu leuchten. Dann, am frühen Abend, zog ein Schatten übers Meer. Die Unwetterwolken im Osten hatten eine Kaltfront vor sich hergeschoben, die die Dschunke schließlich eingeholt hatte. Das Sonnenlicht wurde fahl, und die Temperatur fiel um fünfzehn Grad in ebenso vielen Minuten, ließ die Passagiere frösteln und bewirkte, dass Indy aus seinem Schlaf erwachte, als er von den Lippen der Besatzung die geflüsterten Worte vernahm: ty fung. »Wo sind wir?«, fragte Indy, als er an die Reling trat. »Ungefähr einhundert Meilen vor der chinesischen Küste, auf der Höhe von Schanghai«, antwortete Faye. Obwohl es noch nicht regnete, frischte der Wind auf und verwehte ihr Kleid wie einen kleinen Wimpel hinter ihrem Rücken.