Sie hielt sich an der Takelage fest und blickte über das kabbelige Wasser bis hin zum Festungswall aus dunklen Wolken, die von Osten her immer näher kamen. Unvermittelt aufleuchtende Blitze aus Rosa und Blau zuckten am unteren Rand der Wolkenwand, während sich darunter die verräterischen Wind- und Regenstreifen ausbreiteten.
»Was ist das für ein Wort, das sie immerzu wiederholen?«, fragte Faye.
»Ty fung«, sagte Indy.
»Und was bedeutet es?«
»Nichts Gutes«, erwiderte Indy.
»Das fürchte ich auch«, pflichtete Bryce ihm bei, während er ein Streichholz anriss, seine Hände darumwölbte und sich eine Zigarette anzündete. »Es bedeutet Taifun. Und wenn man die Jahreszeit berücksichtigt und um wie viel das Barometer während der letzten Stunde gefallen ist, würde ich sagen, sie liegen verdammt richtig damit.«
»Ein Wirbelsturm?«, fragte Mystery.
»In diesem Teil der Welt nennt man sie Taifun«, erklärte Bryce.
»In Australien heißen sie Willie-willies, el baguio auf den Philippinen, Hurrikan auf dem Atlantik. Aber im Grunde handelt es sich bei allen um tropische Wirbelstürme.«
»Großartig«, meinte Mystery.
»Pech ist, dass wir kein Funkgerät haben«, meinte Bryce. »Ich wüsste zu gern, wie mein alter Freund Clement Wragge den hier nennen wird. Dieser Wragge ist nicht auf den Kopf gefallen. Er ist australischer Meteorologe und hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Stürme nach Frauen, die er mag, und nach Politikern, die er nicht ausstehen kann, zu benennen.«
»Wer hat je davon gehört, dass man Stürme nach einer Frau benennt?«, fragte Faye.
»Klingt in meinen Augen vollkommen logisch«, murmelte Indy.
»Können wir ihm entkommen?«, fragte Mystery.
»Der Wirbelsturm hat schätzungsweise einen Durchmesser von vierhundert Meilen«, sagte Bryce. »Und im Allgemeinen ziehen sie nach Südwesten, bis sie auf die Küste treffen. Wir fahren genau vor ihm her und haben nicht den Hauch einer Chance, das Festland zu erreichen, bevor er uns eingeholt hat.«
Musashi, die mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Deck hockte, die Hände vor dem Körper gefesselt, fing an zu lachen.
»Was ist daran so komisch?«, fuhr Indy sie an.
»Sie haben selbst das Wetter gegen sich«, lachte sie.
»Sie hat wirklich einen kranken Sinn für Humor«, meinte Mystery.
»Was können wir tun?«, fragte Faye.
»Ich fürchte, gar nichts«, erwiderte Bryce. »Abwarten und beobachten und darauf hoffen, dass wir es bis zu einer kleinen, geschützten Bucht auf einer Insel oder einem anderen Schlupfwinkel schaffen, bevor der Sturm uns einholt.«
Dann zog Bryce den Gin aus seiner Jackentasche, trank ihn aus und schleuderte die leere Flasche ins Meer.
Sokai trug ein schwarzes Gewand. Seine Füße waren unter den Körper gefaltet, die großen Zehen gekreuzt, und seine Hände ruhten mit den Innenflächen nach unten auf seinen Oberschenkeln. Er senkte seine mit einem Band verzierte Stirn, bis sie den harten Holzfußboden berührte, und verharrte drei respektvolle Sekunden in dieser Haltung. Als er in die sezen, die sitzende Stellung, zurückkehrte, flackerten die Kerzen zu beiden Seiten des Altars. Das Flackern wurde von der schwarz lackierten Scheide seines Samurai-Schwertes zurückgeworfen, das in Reichweite vor ihm auf dem Boden lag, und von den Abbildern seiner toten Meister, die die Wände des Dojos säumten. Das Flackern spiegelte sich auch in der mandelfarbenen Iris von Sokais rechtem Auge.
Das andere Auge, noch immer unter nässenden Verbänden verborgen, war mittlerweile nutzlos geworden. Außerdem hatten die Dorne des Nussknackers Stücke seines linken Ohrs und seiner Wange ausgestochen. In Verbindung mit den unbeholfenen Stichen, mit denen der Dorfarzt in Luchow die Wunden vernäht hatte, verlieh dieser Verlust Sokais abziehbildhaft gutem Aussehen jetzt eher einen Hauch von Boris Karloff. Sokai harrte bereits seit Stunden bewegungslos vor dem Altar in dem abgedunkelten Übungsraum aus und suchte nach dem boon ki - dem eigentlichen Grund, dem Wesen und der wahren Bedeutung dessen, was vorgefallen war. Er hatte den Blick über die Gesichter der Meister des Bushido schweifen lassen, angefangen bei seinem eigenen Meister aus Okinawa, bis hin zum grimmigen, zahnlückigen Antlitz von Dharuma, dem Begründer des Zen-Buddhismus aus dem sechsten Jahrhundert, der auch den Mönchen des Songshan-Shaolin-Klosters die Kampfkünste gebracht hatte. Angeblich hatte Dharuma nach seiner Ankunft im Kloster neun Jahre in stummer Versenkung vor einer Höhlenwand verbracht und auf das Geschrei der Ameisen gelauscht. Einer der Mönche, der diese Glanzleistung der Selbstbeherrschung verfolgt hatte, war so ergriffen, dass er eine seiner Hände abtrennte und sie Dharuma als Zeichen seiner Anteilnahme darbrachte.
Die Geschichte, spürte manch einer, hatte den Zweck, sich jeder Deutung zu entziehen, ein weiteres Zen-Koan, über das Betrachtungen anzustellen waren, das aber niemals wirklich verstanden werden konnte. Verstandesmäßiges Begreifen war ausgeschlossen, das Beste, worauf man hoffen konnte, war eine Art kontemplativen, emotionalen Akzeptierens.
Doch als Sokai seinen Fingerspitzen gestattete, den Verband über seinem geblendeten Auge zu berühren, glaubte er die Botschaft zu verstehen. Die dunkle Nacht seines Lebens war auf eine Weise erhellt worden, so wie ein Blitz die Geheimnisse einer Sommernacht sichtbar werden lässt.
Das Geräusch der schreienden Ameisen hatte einen Namen.
»Jones«, knurrte Sokai.
Und aus dem Namen war ein Fluch geworden.
Der Taifun holte die Dschunke in Gestalt einer finsteren Wand aus Wind und Wasser ein, die den Himmel verdunkelte. Der Rumpf der Dschunke wurde unerbittlich von den Wogen des Sturms vorangepeitscht, einem Surfbrett gleich, das auf einem Wellenkamm reitet. Kapitän und Mannschaft hatten beim ersten Anzeichen des aufkommenden Unwetters das Weite gesucht und sich in den kleinen Booten, die der Dschunke anhingen wie Pilotfische dem Bauch eines Hais, aus dem Staub gemacht. Sie würden den Sturm im Schutz irgendeiner Insel vorüberziehen lassen und anschließend, sollte ihn die Dschunke überstehen, zurückkehren. Wenn nicht, dann kam stets ein anderes Schiff zur rechten Zeit des Weges.
Indy und die anderen hatten weniger Wahlmöglichkeiten. Sie hatten sich an einer Ladeluke auf dem Mitteldeck des Schiffes Rücken an Rücken festgezurrt. Bevor der Sturm losschlug, hatte Bryce das Seil durchtrennt, mit dem Musashis Handgelenke gefesselt waren. Indy hatte seinen Filzhut in seine Jacke gestopft und den Reißverschluss hochgezogen. Anschließend hatte er sich mit Faye auf der einen und Mystery auf der anderen Seite an den Händen gefasst.
Sie hörten, wie der Sturm heranbrauste, und es klang wie einhundert Dampflokomotiven, die über das Wasser auf sie zugerast kamen. »Dr. Jones«, schrie Mystery. »Was ist?« »Ich habe Angst.«
»Ich auch«, erwiderte Indy. »Aber halt dich trotzdem einfach an meiner Hand fest, was auch passiert.« Mit dem ersten gewaltigen Ansturm des Wassers über die Decks wurden die Masten der Dschunke wie Zweige fortgerissen. Der Bootsrumpf legte sich vollständig auf die Seite. Nahezu eine Minute lang waren Indy und die anderen unter Wasser, hielten den Atem an und klammerten sich fest, bis der Rumpf sich endlich wieder aufrichtete.
Unter den wuchtigen Schlägen dreißig Meter hoher Wellen und gepeitscht von Winden, die manchmal zweihundert Meilen in der Stunde erreichten, gingen die befestigten Aufbauten rasch zu Bruch. An den offenen Stellen ragten die Planken des Rumpfes wie die Rippen eines Skeletts empor, und Meerwasser schwappte schäumend in beiden Richtungen durch die Ladeluke, der Mittelteil des Rumpfes jedoch hielt stand. Dann warf ein weiterer Brecher den Rumpf in die entgegengesetzte Richtung, und das Schiff tanzte auf dem Kamm, bis es über einer Schlucht aus brodelndem Wasser schwebte. Mystery schrie, als ihr das Deck unter den Füßen wegglitt. Indys Hand schloss sich noch fester um ihr Handgelenk. Einen Augenblick lang hing sie über dem Abgrund. »Mystery!«, brüllte Faye. »Ich hab sie«, rief Indy.