Im selben Augenblick löste sich Bryce' Griff an der Ladeluke und er stürzte mit den Füßen voran und mit den im weißen Kittel steckenden Armen auf dem gesamten Weg nach unten rudernd in die tosende See. Als das entmastete Wrack anschließend krachend zurück auf die See klatschte, zog Indy Mystery schützend an seine Seite.
Der Sturm hielt über eine Stunde unvermindert an, das unerbittliche Wirken von Wind und Wasser ließen Indy und die anderen jedoch lange vorher das Bewusstsein verlieren. Der der Ladung vorbehaltene Teil des Rumpfes war geflutet, hielt sich jedoch über Wasser. Als der Wind sich legte, lief das Wrack auf dem Ausläufer einer winzigen, hakenförmigen Insel auf Grund.
Faye erlangte als Erste das Bewusstsein wieder.
Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass Mystery normal atmete, befreite sie sich aus den Stricken, die sie an die Frachtluke fesselten, und richtete ihre Kleidung.
Dann rüttelte sie Indy.
»Jones«, rief sie. »Wachen Sie auf.«
»Ich bin wach«, beharrte er. »Wo sind wir?«
»Auf einer Insel«, sagte sie. »Scheint unbewohnt zu sein. Wahrscheinlich ist sie nicht einmal auf einer Karte eingezeichnet. Wir sind ziemlich weit vom Kurs abgetrieben worden, und ich wäre bereit, darauf zu wetten, dass wir uns nicht einmal in der Nähe von Schanghai befinden. Aber wenigstens ist der Sturm vorbei.«
»Das ist unmöglich«, sagte Indy und rieb sich die Augen.
»Es ist so still«, meinte Faye. »Und sehen Sie doch - da oben. Blauer Himmel.«
»Sie machen Scherze.«
»Nein«, erwiderte sie. »Und Vögel gibt es auch.«
»Der Sturm muss einen Durchmesser von mehreren hundert Meilen gehabt haben«, protestierte Indy. »Er kann unmöglich so schnell vorüber sein.«
Faye kam mühsam auf die Knie. Sie beugte sich hinüber und tätschelte Mysterys Wange. Das Mädchen schlug die flatternden Lider auf und starrte mehrere Augenblicke lang hoch zu ihrer Mutter.
»Mr. Bryce«, sagte Mystery. »Es tut mir so Leid, dass er fort ist.« »Mir auch«, meinte Faye. »Fast könnte man meinen, er hätte sich dem Sturm geopfert, damit wir anderen ihn überstehen. « »Denselben Gedanken hatte ich auch«, meinte Mystery. »Es war einfach Pech, weiter nichts«, sagte Indy mit heiserer Stimme, während er sich von der Frachtluke losband. »Dagegen ist es ein Wunder, dass wir drei überlebt haben.« »Vier«, sagte Musashi, ihre Erschöpfung überwindend. »Wir sind zu viert. Ein Offizier der kaiserlichen Armee und drei Gefangene.«
»Sicher«, sagte Indy, während er seinen mit Wasser vollgesogenen Hut aus seiner Jacke zog und aufsetzte. »Ein Wunder ist es trotzdem, wie auch immer Sie es drehen und wenden.« »Das könnte genau der richtige Ausdruck sein«, sagte Faye. »Sehen Sie.«
Ein Doppelregenbogen spannte sich hinter ihnen über die Weite des Himmels.
»Er ist noch nicht vorbei«, sagte Indy, der mit einem Schlag begriff. »Das ist nur eine Atempause. Wir befinden uns genau im Zentrum des Wirbelsturms. Schauen Sie nach unten, auf den Horizont - dort können Sie die Wolkenwand erkennen, die uns auf allen Seiten umkreist.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Mystery. Indy erhob sich.
Mystery zuckte mitfühlend zusammen, als sie das Knarren und Knacken in seinen Knien vernahm. »Wir müssen unbedingt einen Ort finden, wo wir den Rest des Sturmes heil überstehen können«, sagte Indy und
rieb sich die Schulter. »Und das am besten schnell. Wenn du senkrecht nach oben schaust, kannst du sehen, dass das Zentrum bereits über uns hinweggezogen ist. Die Nachhut des Sturms wird bald über uns hereinbrechen, und die wird genauso heftig werden, wie das, was wir bereits hinter uns haben.« »Sehen Sie«, sagte Musashi. Sie zeigte am Strand entlang.
Der Strand war mit entwurzelten Bäumen und anderen Trümmern des Sturms übersät. Inmitten eines kleinen Palmenhains in der Inselmitte jedoch ragte ein grobschlächtiger Kirchturm in die Höhe, und auf dem Dach des Turmes befand sich ein Kreuz aus Holz.
KAPITEL FÜNF
Die Lazarus-Insel
Das Holzkreuz stand auf dem felsigen Ausläufer eines Hügels, der eine Lagune überblickte. Darunter, aus einer Höhle im Vulkangestein gebaut, befand sich eine festungsähnliche Kirche mit einer mächtigen, kupferbeschlagenen Doppeltür. Indy packte den Ring an einem der Türflügel und zog daran.
»Sie ist abgeschlossen«, sagte er.
Der Wind frischte auf, und es hatte wieder zu regnen angefangen.
»Ist dort jemand drin?«, fragte Faye.
»Jemand hat sie von innen verriegelt«, stellte Indy fest.
Den Strand selbst umgab ein Kreis aus ein paar Hütten, und mehrere verlassene Auslegerboote waren weit auf den Sand hinaufgezogen worden. Einige stark verwitterte Hinweisschilder in französischer Sprache erklärten die Insel zur eingeschränkten Handelszone. Indy hämmerte mit der Faust gegen das blind gewordene Kupfer, dann hob er einen Brocken Vulkangestein vom Boden auf und hämmerte weiter. Der Regen wurde heftiger. Ein Blitz schlug in eine fünfzig Meter weiter unten am Strand stehende Palme ein, und die Erschütterung der Explosion warf sie fast zu Boden.
»He!«, schrie Mystery mit frisch gewonnenem Elan. »Da drinnen in der Kirche! Wir brauchen Schutz!«
Plötzlich wurde die Tür entriegelt und von einer in ein Gewand gehüllten, entstellten Gestalt mit einer Kerosinlampe in der Hand aufgerissen.
Die vier stürzten in die Höhle hinein.
»Danke«, sagte Indy und schüttelte sich das Wasser von seinem Hut. »Der Sturm hätte uns fast erwischt - zum z weiten Mal.«
»No entiez«, erwiderte der Mann.
»Mister, da draußen tobt ein Wirbelsturm«, sagte Mystery. »Oder haben Sie das etwa nicht bemerkt?«
»Bemerkt schon«, erwiderte der Mann mit schwerem französischen Akzent. Seine Stimme klang heiser, so als hätte er seit langer Zeit nicht mehr gesprochen. »Die Insel ist Sperrgebiet. Sie können nicht hier bleiben.«
»Tut mir Leid«, sagte Indy. »Aber wir haben wirklich keine andere Wahl. Der Sturm hat unser Schiff versenkt.«
»Wieso denn Sperrgebiet?«, fragte Faye.
»Verbotenes Gebiet«, krächzte der Mann.
Er stellte die Lampe auf den Boden. Sein Gesicht war unter einer weiten Kapuze verborgen, und er trat brüsk zurück, als Indy versuchte, ihm die Hand freundlich auf die Schulter zu legen.
»Verzeihung«, sagte Indy. »Hören Sie, wir werden keine Umstände machen. Vier halb ertrunkene Schiffbrüchige, die Zuflucht vor einem Sturm suchen. Wir werden so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden. Haben Sie ein Funkgerät, damit wir Hilfe herbeirufen können?«
»Warten Sie hier«, sagte der Mann.
Er ließ die Lampe stehen und verschwand wieder.
»Was hatte das denn zu bedeuten?«, fragte Faye.
»Keine Ahnung«, erwiderte Indy, »aber offenbar kann er im Dunkeln ausgezeichnet sehen.«
Draußen wütete der Sturm, und Wasser sickerte unter der Doppeltür hindurch und sammelte sich in Pfützen auf den Steinplatten. Indy hob die Lampe vom Boden auf, hielt sie in die Höhe und schwenkte sie im Kreis. Im flackernden Licht wurden ein paar verstaubte, aufs Geratewohl übereinander gestapelte Kirchenbänke sichtbar.
»Sieht aus, als wäre es schon eine Weile her, dass man hier einen Gottesdienst abgehalten hat«, stellte Indy fest. »Mehrere Jahre«, gab Faye ihm Recht. »Das gefällt mir nicht«, sagte Musashi. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen, in der Hoffnung, dadurch ihr Zittern unterbinden zu können. »Das erinnert mich an die Gespenstergeschichten, die meine Großmutter immer erzählte, in denen Reisende in ein Unwetter geraten und in einem fremden Schloss Zuflucht suchen. Sie nehmen nie ein gutes Ende.« Endlich erschien eine weitere Laterne am fernen Ende der Kirche und hielt auf sie zu. Der Mann, der sie trug, war beträchtlich größer als der Erste und ebenfalls in ein Gewand gehüllt. »Ich möchte mich für Henri entschuldigen«, erklärte der Mann mit französischem Akzent. »Wir bekommen hier nicht oft Besuch. Genau genommen bekommen wir überhaupt niemals Besuch. Wenn ich recht verstanden habe, ist Ihr Schiff gesunken. Gibt es noch weitere Überlebende?« »Nein«, sagte Faye. »Wir sind alle.« »Das tut mir Leid«, meinte der Mann. »War es ein Handelsschiff? Von welcher Linie?«