»Von gar keiner«, sagte Indy. »Es war eine Dschunke. Ich weiß nicht einmal sicher, was ihr Heimathafen war.« »In diesem Fall besteht keine Notwendigkeit, einen Funkspruch abzusenden oder andere abzuhören«, sagte er. »Kommen Sie, bitte. Wir müssen dafür sorgen, dass Sie sich aufwärmen und abtrocknen können.«
Der Mann führte sie über eine Treppenflucht hinunter in einen kasemattenähnlichen Bereich, der mit einem langen Holztisch; einigen Feldbetten und einem Bücherregal ausgestattet war. Er hielt eine Kerze an den Abzug der Kerosinlampe bis sie brannte, dann zündete er mit ihr drei weitere auf der langen, hölzernen Tafel an.
»Hier sind Sie sicherer«, erklärte er.
»Ich kann den Sturm kaum hören«, sagte Indy.
»Ja, der Orden hat sich zweifellos eine Festung gebaut«, erwiderte der Mann gut gelaunt, während er den bauchigen Ofen in der Mitte des Raumes mit Anmachholz fütterte. »Dieser Raum wurde seit dem Abzug der letzten Ordensbrüder nicht mehr benutzt. Es ist seltsam, aber die alten Absonderungsbestimmungen haben noch immer eine gewisse Wirkung.«
»Verzeihen Sie«, sagte Indy, »ich möchte nicht unhöflich sein, aber könnten Sie uns verraten, wo wir uns befinden?«
Der Mann unterbrach seine Arbeit am Ofen, ohne zu bemerken, dass ein mit Pusteln übersäter Finger in den lodernden Flammen zurückblieb.
»Geben Sie Acht«, sagte Indy und zog den Arm des Mannes zurück.
»Verflucht«, sagte der Mann und schlug das Feuer an seinem
Umhang aus. »Sie haben wirklich keine Ahnung? Haben Sie die Schilder nicht gesehen?«
»Da stand irgendwas von einer Handelszone«, meinte Faye.
»Tja«, erwiderte der Mann gedehnt, während er die Ofentür schloss und sich auf dem nächsten Stuhl niederließ. »Dies ist die Lazarus-Insel. Sie wurde vom Orden des heiligen Lazarus gegründet. Es ist eine Leprakolonie.«
»Leprakranke«, zischte Musashi.
»Man hat mir gesagt, so hässlich sehe ich gar nicht aus«, fuhr der Mann fort und zog die Kapuze zurück, unter der ein bleiches Gesicht mittleren Alters zum Vorschein kam, das bis auf ein paar rosig-graue Flecken längs der Nase völlig normal aussah. »Meine Hände hat es allerdings schlimm erwischt. Ich habe kein Gefühl mehr in den Fingern, wissen Sie. Der Gestank verbrennenden Fleisches tut mir Leid.«
»Darauf bezieht sich die Sperre«, meinte Indy. »Zwischengeld?«
»Richtig, man zwingt uns, Zwischengeld zu verwenden«, fuhr der Mann fort. »Aus Angst vor Ansteckung. Zuerst waren es die Franzosen, und als der Orden sich dann vor einigen Jahrzehnten auflöste, gaben die Amerikaner das Zwischengeld aus und setzten die Handelsbeschränkungen durch. Die Kirche wird seit der Zeit vor dem Großen Krieg nicht mehr benutzt.«
»Dann ist dies Eigentum der Vereinigten Staaten?«, fragte Indy.
»Kein Mensch würde Anspruch auf die Lazarus-Insel erheben«,gab der Mann lachend zurück. »Aber man zwingt uns trotzdem, das Sondergeld zu benutzen, um uns die Dinge zu kaufen, die wir nicht selbst herstellen können.
»Ist die Krankheit ansteckend?«, fragte Mystery.
»Tut mir Leid«, sagte Faye und packte ihre Tochter bei den Schultern. »Entschuldigen Sie unsere Manieren. Verzeihen Sie, aber ich weiß Ihren Namen nicht.«
»Pascal.«
»Monsieur Pascal.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Sie ist ansteckend, Mademoiselle, aber durch einen so flüchtigen Kontakt wie den Austausch von Geld wird sie nicht übertragen. Wer unter Leprakranken lebt, weiß, dass die meisten gesunden Menschen von Natur aus dagegen immun sind. Tatsächlich stecken sich viele, die mit Leprakranken verheiratet sind, niemals mit der Krankheit an. Ich fürchte, Unwissenheit hat weit mehr Schaden angerichtet als die Krankheit selbst.«
»Ist die Krankheit heilbar?«, wollte Mystery wissen.
»Nein«, antwortete Pascal. »Heilbar ist sie nicht.«
»Noch nicht«, wandte Indy ein. »Aber das wird kommen.«
»Ich wünschte, ich könnte daran glauben«, meinte Pascal. »Aber wir behelfen uns so gut wir eben können. Deswegen war Henri Ihnen gegenüber so kurz angebunden. Die Strafen für die Verletzung der Handelsbeschränkungen können ziemlich hart sein. Ich fürchte, die Gesellschaft hat uns nicht nur zu Aussätzigen gemacht, sondern auch zu Kriminellen.«
»Da befinden Sie sich in guter Gesellschaft«, meinte Indy.
»Wie viele sind Sie?«, fragte Faye.
»Fast einhundert«, sagte Pascal. »Größtenteils Männer, aber auch ein paar Frauen.«
»Und Sie sind ihr Vertreter?«, fragte Indy.
»Ihr Sprecher, ihr Arzt, Rechtsanwalt und Priester«, erwiderte Pascal. »Bitte nehmen Sie unsere Gastfreundschaft an. Sobald der Sturm sich legt, werde ich Ihnen etwas zu essen schicken. Bis dahin, schlage ich vor, trocknen Sie Ihre Kleider und ruhen sich ein wenig aus. Sie sind, mit einer Ausnahme, Amerikaner?«
»Ja«, sagte Indy.
»Morgen früh werde ich versuchen, Kontakt mit der USS Augusta aufzunehmen. Sie ist das Flaggschiff der Asienflotte. Sie kreuzt schon seit Wochen zwischen hier und Schanghai und versucht, amerikanische Stärke zu zeigen. Wenn sie nicht zu weit draußen auf See ist, kann sie Sie vielleicht an Bord nehmen.«
»Dann haben Sie also Funk«, sagte Indy.
»Selbstverständlich«, antwortete Pascal.
»Unsinn«, wandte Musashi ein.
»Soll ich versuchen, auch die kaiserliche -«
»Nein«, unterbrach ihn Indy. »Und bitte lassen Sie diese Frau auf keinen Fall in die Nähe des Funkgeräts. Mystery, würde es dir etwas ausmachen, die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen?«
»Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte Mystery. »Haben Sie einen Strick?«
Pascal wirkte schockiert.
»Ist das wirklich nötig?«
»Auf jeden Fall«, sagte Indy.
»Darf ich wenigstens diese Sachen ausziehen«, fragte Musashi unter Zähneklappern. »Mir ist kalt.«
»Es gibt noch einen anderen Raum«, schlug Pascal vor. »Einen kleineren. Er verfügt über eine Tür, die von außen verriegelt werden kann. Er liegt wie dieser unter der Erde und hat keine weiteren Ausgänge. Einen Ofen gibt es dort auch.«
»Das wird gehen«, sagte Indy.
»Ich helfe ihr«, erbot sich Faye und schnappte sich eine der Decken. »Komm, Mysti. Lassen wir Dr. Jones ein wenig alleine.«
»Ich würde lieber hier bleiben«, sagte Mystery.
»Das wird leider nicht gehen«, sagte Faye.
»Was ist mit Ihrer Schulter?«, wandte sich Pascal an Indy. »Wie ich gesehen habe, sind Sie offenbar verletzt. Ist sie gebrochen? Benötigen Sie medizinische Hilfe?«
»Nein«, sagte Indy. »Danke. Sie wird mit der Zeit schon wieder verheilen.«
»Wie Sie wollen«, sagte Pascal. »Bis morgen früh.«
Endlich alleine, zog Indy seine triefnassen Kleider aus und verteilte sie zum Trocknen über die Stühle. Dann hüllte er sich in eine Decke und legte sich aufs Feldbett. Er war müde, aber noch nicht bereit einzuschlafen. Seine Augen wanderten über die verstaubten Bände in dem alten Bücherschrank. Die meisten Titel waren auf Französisch, Katechismen und das Leben der Heiligen. Es gab ein deutsches Wörterbuch mit einem stark abgenutzten Einband. Die beiden Bücher auf Englisch waren die Lebenserinnerungen von U. S. Grant und eine Ausgabe der König-James-Version der Bibel. Indy griff nach der Bibel.