»Konnten Sie ihm einen Tipp geben?«, fragte Indy.
»Ja. Er fragte mich nach sehr alten Hindu-Texten, und ich konnte etwas über Sanskrit erzählen. Wir sprachen auch über den nahezu in allen Religionen der Welt verbreiteten Glauben, dass es ein Buch oder Schrifttafeln gebe, auf denen die Geschichte jedes Menschen verzeichnet ist, der jemals leben wird.«
»Das Omega-Buch«, sagte Faye.
»So wird es in einigen Kulturen genannt«, meinte Jadoo. »Die alten Ägypter glaubten zum Beispiel, es gebe in der Stadt Heliopolis, in der Nähe Kairos, eine gewaltige heilige Säule mit Namen Annu, die dort schon vor Anbeginn der Zivilisation gestanden habe und die auf 36.535 in ihrem Innern verborgenen Schriftrollen geheimes Wissen berge. Dieses Wissen könne nur verdienten Persönlichkeiten und nur zum Wohl der Welt offenbart werden.«
Indy musste lachen. »Das ist eine Metapher«, sagte er. »Die 36.535 Schriftrollen stehen für die 365 Tage des Jahres, plus dem Bruchteil eines Tages, und einigen Auslegungen zufolge birgt das Wissen nicht die Säule selbst, sondern der Himmel - mit anderen Worten, die Sterne.«
»Wie im Himmel, also auch auf Erden«, zitierte Jadoo eine verbreitete okkulte Weisheit. »Angeblich suchte Plato den Tempel Neith auf, dessen geheime Hallen historische Aufzeichnungen enthielten, die dort mehr als neuntausend Jahre lang aufbewahrt wurden. Der Historiker Manetho, der eine heute noch gebräuchliche Zeittafel der Pharaonen und Dynastien erstellte, soll seine Geschichte angeblich gewissen Säulen entnommen haben, auf die er an unterirdischen Orten gestoßen war und auf denen Hermes das heilige Wissen niedergeschrieben hatte.«
»Von diesen Legenden habe ich gehört«, sagte Indy. »Auch von der über Edgar Cayce, dem so genannten schlafenden Propheten, der vorhersagte, man werde unter den Pranken der Sphinx einen >Saal der Aufzeichnungen< finden, der die Geschichte einer untergegangenen Zivilisation enthält.« »Ganz recht«, sagte Jadoo. »Wir unterhielten uns auch über einige bedeutende archäologische Funde, und dass bei vielen von ihnen offenbar eher Magie als Wissenschaft im Spiel war. Erstaunlich, nicht wahr, an wie vielen Entdeckungen drei Personen beteiligt waren - ein betrügerischer Archäologe, sein Geldgeber und die noch nicht ganz volljährige Tochter seines Auftraggebers.« »Das Grab des Tut-Ench-Amun«, sagte Indy, »oder der Kristallschädel von Lubantuun.« »Genau«, bestätigte Jadoo. »Zweifellos ist hier eine geheimnisvolle Macht am Werk, die vollständig zu begreifen die Wissenschaft nicht fähig ist. Schließlich spielt das Glück beim Graben in der Erde eine außerordentliche Rolle, finden Sie nicht auch?«
»Als Sie sich mit Kaspar über dieses alte Buch unterhielten«, fragte Indy, »war da im Zusammenhang mit dem Auffinden noch von etwas anderem als Glück die Rede?« »Ja«, sagte Jadoo, »vom Stab des Aaron.« »Wieso war Kaspar der Meinung, der Stab werde ihm dabei helfen, diese Aufzeichnungen zu finden?«, wollte Indy wissen. »Schließlich haben wir es mit untereinander nicht verwandten theologischen Systemen zu tun.«
«Weil man mithilfe dieses Stabes alles zu finden vermag«, antwortete Jadoo. »Die Juden, zum Beispiel, fanden mit seiner Hilfe in der Wüste Wasser; man klopft damit auf einen Fels, und eine Quelle sprudelt hervor. Kaspar war überzeugt, eine solche göttliche Fügung sei erforderlich, um die richtige Stelle im Sand zu finden. Schließlich gleicht der Vorgang dem Versuch, eine Nadel im Heuhaufen zu finden, wie Ihr Amerikaner sagt.« »Der Glaube an den Stab hat im Islam, im Judentum und in der Christenheit Tradition«, erwiderte Indy. »Aaron war angeblich 123 Jahre alt, als er starb und am Berg Horeb beigesetzt wurde. Über den Ort, wo sich der Stab zuletzt befand, schweigen die Texte.« »Nicht alle«, wandte Jadoo ein. »Sie sind im Besitz von Informationen, die Sie bereit wären, uns mitzuteilen?« Jadoo zuckte die Achseln. »Gerüchten und Legenden aus dem Volk nachzujagen ist, als wollte man den Wind einfangen«, erwiderte er. »Es existiert allerdings eine Geschichte über den Stab, die sich hartnäckig hält, und derzufolge er von einem Stamm von Teufelsanbetern im Irak verehrt wird, die man Yezidi nennt.« »Teufelsanbeter?«, fragte Mystery. »Warum sollten sie etwas verehren, das so eng mit der biblischen Geschichte des Auszugs der Juden aus Ägypten verbunden ist?«
»Weil Aaron und seine Schwester, eine Magierin mit Namen Miriam, ihren Glauben verlor, als ihr Bruder Moses sich auf dem Berg befand, wo er von Gott die Zehn Gebote überreicht bekam«, sagte Indy. »Sie bedrängten die Juden, das Goldene Kalb zu erschaffen und als Götzen zu verehren.« »Die Yezedi sind ein außergewöhnliches Volk«, fuhr Jadoo fort. »Sie haben sich in einer entlegenen Bergregion im Norden Bagdads niedergelassen, zu der Fremde absolut keinen Zutritt haben. Ich erklärte Kaspar, er täte gut daran, sich in Acht zu nehmen, wenn er bei ihnen eintrifft, da sie leicht in Zorn geraten und für Vernunft nicht zugänglich sind. Wie nennen es die Amerikaner gleich? Eher würden sie jemandem die Kehle durchschneiden, als ihm ins Gesicht zu sehen.«
»Kaspar hatte also vor, in den Irak zu reisen?« »Ja, ich glaube, so lautete sein Plan«, sagte Jadoo. »Aber genau weiß ich es nicht, schließlich habe ich seitdem nichts mehr von ihm gehört. Außerdem hat er seine Reiseroute mit mir nicht abgesprochen.«
»Danke«, sagte Faye, während sie die Asche ihrer Zigarre im Aschenbecher abklopfte. »Sie haben uns den ersten echten Hinweis über den Aufenthaltsort meines Mannes geliefert.«
»Ich wünschte nur, ich könnte genauere Angaben machen«, entschuldigte sich Jadoo. »Eine Frage hätte ich noch«, sagte Faye.
»Nur zu«, forderte Jadoo sie auf.
»In Ihrer Sammlung im Nachbarzimmer befindet sich ein aus einem menschlichen Schädel hergestellter Pokal«, sagte sie. »Uns fiel auf, dass er, im Gegensatz zu den anderen Stücken, nicht eingestaubt war. Außerdem roch er nach Wein.«
»Verstehe«, sagte Jadoo und lächelte. »Und da haben Sie sich gefragt, ob ich, um meinem Namen gerecht zu werden, daraus Erfrischungen zu mir nehme? Nein, es tut mir Leid, da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe diese Reliquie vor einigen Jahren in Tibet erstanden, und durch Nachlässigkeit geschah es, dass eine Mäusefamilie sich darin einnistete. Als ich dies vergangene Woche bemerkte, bat ich Pasha, ihn zu reinigen. Er verwendete dazu Essig, daher der Geruch.«
»Das erklärt es«, sagte Faye.
»Was meinen Sie mit >um meinem Namen gerecht zu werden<?«, wollte Mystery wissen.
Der Magier wirkte verlegen.
»Jadoo«, erläuterte Indy, »bedeutet >Schwarze Magie<.«
»Ein Name, den ich mir für die Bühne zugelegt habe«, sagte der Magier.
An der Tür klopfte es, und Pasha trat ins Zimmer. In der Hand hatte er ein Tablett, und auf dem Tablett lag ein schweres, gelbes Stück Papier, so gefaltet, dass es seinen eigenen Umschlag bildete.
»Verzeihung«, sagte er. »Eine Nachricht für Dr. Jones.«
»Danke«, sagte Indy.
Indy öffnete das Telegramm und las.
»Es ist von Marcus Brody«, sagte er mit beinahe brechender Stimme. »Er schreibt, er sei untröstlich zu erfahren, dass ich in Indien statt in China bin, er dennoch einen Geldtransfer zur hiesigen Britischen Handelsbank veranlasst habe. Ich brauche nichts weiter zu tun, als zur Bank zu gehen und unser übliches Kodewort anzugeben.«
»Sie scheinen überrascht zu sein, von Ihrem alten Freund zu hören«, meinte Faye.
»Überrascht nicht«, erwiderte Indy. »Nur von Heimweh ergriffen.«
»Sie haben ein Kodewort?«, fragte Mystery.
»Ja«, antwortete Indy stolz. »Eine Gedächtnisstütze, die wir uns gemeinsam ausgedacht haben, etwas aus unserer Kindheit. Er ist wirklich praktisch.«
»Und was ist, wenn jemand es errät?«, fragte sie.
»Das wird mit Sicherheit nicht geschehen«, erwiderte er. »Das Kodewort ist Bestandteil eines Satzes, und jedes Mal, wenn wir ihn benutzen, rückt es um eine Position weiter. Oh, verdammt.«