»Was ist das?«, fragte Faye.
»Ninive«, antwortete Indy. »Eine der ältesten Städte der Welt, vermutlich von Nimrod, dem Urenkel Noahs, gegründet. Sie wurde im sechsten Jahrhundert vor Christus von den Babyloniern zerstört.«
»Und wohin jetzt?«, fragte Faye.
»Es existiert eine alte Straße, die von hier in die Berge im Nordosten führt«, erklärte Indy. »Die nehmen wir.«
Die Straße war wenig mehr als ein Ziegenpfad und so holprig, dass sie, aus Angst, die Federung der Motorräder könnte brechen, gezwungen waren, ihre Geschwindigkeit auf beinahe Schritttempo zu drosseln. Ganz auf das Befahren der Straße konzentriert, bemerkte Indy nicht, dass sie während der letzten zehn Meilen verfolgt worden waren.
Auf einmal befanden sich rechts und links von ihnen jeweils vier Reiter, die nicht die geringste Mühe hatten, mit den Motorrädern Schritt zu halten. Die Pferde waren Araber, sechzehn Handbreit hoch, und die Reiter trugen dunkle Gewänder und alte Vorderlader-Gewehre. An ihren Gurten hingen khanjers, die gefährlich aussehenden Krummdolche der Wüste.
In ebenem Gelände hätten die Fahrzeuge sie mit Leichtigkeit abhängen können, nicht jedoch hier. Indy nahm das Gas zurück und ließ sein Motorrad gemächlich ausrollen, und Faye folgte seinem Beispiel.
»Machen Sie keine abrupten Bewegungen«, sagte Indy mit einem Lächeln auf dem Gesicht an Faye und Mystery gewandt, obwohl er dabei die Reiter anschaute. »Und was immer Sie tun, richten Sie nicht das Wort an sie, denn das käme einer Beleidigung gleich. Nur Männer sprechen mit Männern.«
Der Anführer war ein kräftiger Mann mit leuchtend blauen Augen, die aus einem Gesicht hervorlugten, das ebenso verwittert war wie die Landschaft, die sie umgab. Seine Nase glich einem der mächtigen Findlinge, und seine Haare und sein Bart hatten die Farbe und Beschaffenheit von Stahlwolle.
Er sprang von seinem Pferd ab und kam auf Indy zu. Sein Steinschlossgewehr ruhte in der Beuge seines linken Armes, sodass seine Rechte frei blieb, um den khanjer zu schwingen, sollte dies erforderlich sein.
Er begrüßte Indy auf Arabisch, dann sagte er:
»Ich spreche Englisch, ein wenig.«
»Gut«, antwortete Indy und öffnete seine Jacke ein wenig, sodass man den im Halfter steckenden Webley nicht übersehen konnte.
»Ich spreche ein wenig Arabisch.«
»Ich bin Scheich Ali Azhad.«
»Mein Name ist Dr. Jones«, erwiderte Indy auf Arabisch, wohl wissend, wie viel Bedeutung man in diesem Teil der Welt Titeln beimaß. »Diese Frauen sind meine Assistentinnen. Sie sind unbedeutend, aber ich habe sie gern. Sie gehören mir.«
Faye, sich des Inhalts des Gespräches nicht bewusst, setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf.
Der Scheich nickte.
»Du behandelst Kranke?«, fragte er.
»Nein«, sagte Indy. »Diese Art Doktor bin ich nicht - ich bin Lehrer, Archäologe. Ich grabe in der Erde.«
»Und was suchst du dort?«, fragte der Scheich.
»Die Vergangenheit«, sagte Indy.
Der Scheich nickte ernst.
»Wir warten seit drei Tagen auf euch«, sagte er. »In einem Traum sah ich euch auf roten Maschinen kommen. Euch alle drei. Aber ich dachte, ihr wärt drei Männer. Ich habe mich täuschen lassen, weil eure Frauen Hosen tragen. So ist das mit Träumen. Sie erzählen die Wahrheit, doch auf welche Weise, weiß man erst, wenn das Geträumte tatsächlich eintritt.«
»Du bist ein Yezedi?«, erkundigte sich Indy. »Du lebst in Lalesh?«
»Wir nennen es Scheich Adda, zu Ehren unseres großen Propheten. Es liegt in jenem Tal dort drüben. Wir sind ein friedliches Volk. Die Welt hat kein Verständnis für uns. Man versucht, uns umzubringen und auszulöschen. Warum seid ihr hier?«
»Hat dir der Traum das nicht gesagt?«, fragte Indy und ging damit ein ziemliches Risiko ein.
Der Scheich brummte etwas.
»Kann ich deine Waffe sehen?«
Indy nahm den Webley aus dem Halfter und hielt ihn dem Scheich mit dem Knauf nach vorne hin.
»Wenn ich mir deine ansehen kann«, sagte er.
Der Scheich reichte ihm das Steinschlossgewehr und nahm dafür den Webley.
Das Gewehr war alt, vielleicht hundert Jahre oder älter, aber gut in Schuss. Es roch nach Öl und Schwarzpulver. Es war ungefähr ein 40er Kaliber, und im Hahn steckte ein nagelneuer Feuerstein.
Der Scheich klappte die Trommel des Webley heraus, sah die Messingpatronen, schloss den Revolver wieder und prüfte seine Schwere, indem er damit auf einen Berggipfel zielte. Dann gab er
ihn Indy zurück. Indy reichte ihm das Gewehr.
»Eine schöne Waffe«, sagte Indy.
Der Scheich nickte zufrieden.
»Ich nenne dich Jones.«
Indy nickte.
»Ich werde dich Ali nennen«, erwiderte er.
»Ich bringe dich nach Scheich Adda«, sagte Ali. »Aber zuerst die Regeln: Es darf nicht gespuckt werden. Es darf kein Blau getragen werden. Und Sheitan darf nicht erzürnt werden.«
Der Scheich stieg auf sein Pferd und ritt, gefolgt von den anderen sieben Reitern, die Straße entlang voraus. Indy startete sein Motorrad.
»Wer ist Sheitan?«, fragte Faye.
»Satan«, sagte Indy.
Das Dorf Scheich Adda, die heiligste aller Yezedi-Siedlungen, war eine Ansammlung weißer, kegelförmiger Grabmale und Tempel inmitten von ein paar hundert in einem grünen Tal gelegenen Hütten. Pfaue, Symbole einer jener Halbgötter, die nach dem Glauben der Yezedi die Erde beherrschten, liefen frei herum. Von Ziegen- und Pferdezucht abgesehen, schien es kaum Handel zu geben, und gemessen am Maßstab der Yezedi war Ali ein wohlhabender Mann, weil er ein Gewehr besaß, ein Pferd, ein khanjei sowie seinen eigenen kleinen Laden, der mit Tee und billigstem westlichen Krimskrams handelte. Weil er im Dorf nach dem Hohepriester als der mächtigste Mann galt, hatte man ihm gestattet, Englisch zu lernen und zu sprechen. »Wie groß ist das Volk der Yezedi?«, fragte Mystery, als sie aus dem Beiwagen kletterte.
»Das weiß niemand«, sagte Indy. »Schätzungen reichen von ein paar tausend bis zu möglicherweise zehntausenden. In einer Region, in der Religionskrieg die wichtigste Einnahmequelle ist, sind die Yezedi in der unglücklichen Lage, mit der einen Person identifiziert zu werden, die fast überall in der Welt gehasst wird. Sie werden schon seit Jahrhunderten verfolgt.«
»Wie lange gibt es sie schon?«
»Auch das weiß niemand«, antwortete Indy. »Aber sie scheinen eine der ältesten religiösen Gemeinschaften der Welt zu sein. Es wurde bereits behauptet, sie seien ein unmittelbares Bindeglied zur Religion der Sumerer, aber auch das ist nicht bewiesen. Ihre Herkunft lässt sich allerdings bis zu den Geheimreligionen zurückverfolgen.«
»Verehren sie tatsächlich den Teufel?«, fragte sie.
»Verehren ist nicht ganz das richtige Wort«, meinte Ali an Indy gewandt, als er näher kam. Es wäre für ihn einer Unhöflichkeit gleichgekommen, Mystery unmittelbar zu antworten. »Wir glauben an die Güte Allahs. Weil Allah gut ist, haben wir von Ihm nichts zu befürchten. Sheitan ist es, auf den man Acht geben und dem man Respekt zollen muss.«
»Auf welche Weise zollt ihr ihm Respekt?«, fragte Indy.
»Mit jedem Aspekt unseres Lebens, selbstverständlich«, antwortete Ali. »Kommt, seid ihr hungrig? Wir werden etwas essen.«
Indy folgte Ali in dessen Haus, hielt Faye und Mystery aber zurück, bevor sie eintreten konnten.
»Tut mir Leid«, sagte er. »Aber Sie werden hier draußen warten müssen, bis die Männer fertig sind. Dann wird man Ihnen die Reste bringen.«
»Die Reste? «, fragte Mystery.
»Sie hat Recht«, meinte Faye. »Das ist barbarisch.«
»Machen Sie keinen Aufstand«, riet Indy. »Das wirft ein schlechtes Licht auf mich. Hören Sie, ich mache die Regeln hier nicht. Außerdem könnte es schlimmer sein, wenigstens brauchen Sie keinen Schleier zu tragen, was in diesem Teil der Welt als ziemlich fortschrittlich gilt. Falls Sie hungrig sind, im Beiwagen sind noch reichlich Lebensmittel.«