Nach dem Mahl kam Indy, bekleidet mit einem weißen Turban und einem derben zebun, dem traditionellen schlichten arabischen Gewand, wieder zum Vorschein. Unmittelbar vor der Hütte blieb er stehen, legte die Hände auf den Magen und rülpste ausgiebig.
Faye und Mystery hockten noch immer bei den Motorrädern, da keiner der anderen Dorfbewohner, ob männlich oder weiblich, es wagte, auch nur das geringste Interesse an ihnen zu bekunden.
Ali klopfte Indy auf den Rücken und bedankte sich für das Kompliment. »Komm«, sagte er. »Ich werde dir dein Haus zeigen. Nimm deine Frauen mit.«
»War es nett?«, fragte Faye.
»Sie haben das bessere Ende erwischt, glauben Sie mir«, sagte Indy leise. »Hammel mit Schafsaugen. Im Augenblick würde ich alles für ein Schinkensandwich geben.«
»Tut mir Leid«, meinte Faye. »Mystery und ich haben den gesamten Büchsenschinken aufgegessen.«
»Er war übrigens köstlich«, bestätigte Mystery.
»Hier, ziehen Sie das an«, sagte Indy, als er Faye die Gewänder zuwarf. »Sie halten es für unziemlich, wenn eine Frau Hosen trägt.«
Ali führte sie zu einer bescheidenen Hütte unweit des Dorfbrunnens. Nachdem Indy die Zündkerzen entfernt hatte, ließen sie die Motorräder draußen stehen.
»Vertraust du uns nicht?«, fragte Ali.
»Selbstverständlich«, erwiderte Indy, während er die Zündkerzen in seiner Mappe verstaute. »Aber würdest du dein Pferd mit einer Kandare in den Zähnen draußen stehen lassen?«
Der Sandboden in der Hütte war frisch geharkt, und man hatte zwei Strohmatten zum Schlafen hineingelegt. Außer den Matten gab es keine Möbel. Neben die Tür hatte man einen Obstkorb gestellt, der mit einem Stück Zeltleinwand abgedeckt war.
»Ich hoffe, du findest es angemessen«, sagte Ali.
»Mehr als angemessen«, erwiderte Indy. »Danke, mein Freund.«
Am nächsten Morgen, vor Tagesanbruch, kam Ali in die Hütte gekrochen und kniete neben Indy nieder. Faye und ihre Tochter schliefen noch, sie teilten sich eine Strohmatte in der hinteren Ecke der Hütte.
Ali legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Indy riss die Augen auf, und seine Hand griff nach dem Revolver.
Alis khanjer war an seiner Kehle, bevor Indy seine Finger um den Griff des Webley schließen konnte.
»Ich bin es nur«, sagte Ali, während er den Dolch in seine Scheide zurückschob.
»Ich dachte, draußen sei jemand, der versucht, die Motorräder zu stehlen«, sagte Indy und ließ den Revolver sinken.
»Zieh dich rasch an, mein Freund«, sagte Ali. »Hier, setz diesen Turban auf - die passende Kopfbedeckung für einen Mann. Man hat dich in unseren Tempel eingeladen, den noch kein Weißer zu Gesicht bekommen hat - jedenfalls keiner, der es überlebt hätte, um davon zu berichten.«
»Warum gerade ich?«, fragte Indy, während er seine Stiefel überstreifte.
»Der Grund dafür ist mein Traum«, erklärte Ali, »und weil die anderen Scheichs deinem Besuch ebenfalls Bedeutung beimessen.
Dies ist eine Zeit großer Vorbedeutungen.«
Indy folgte Ali nach draußen, während er sich den Turban um den Kopf wickelte. Die Sterne leuchteten strahlend hell an einem wolkenlosen Himmel. Sie gingen die Staubstraße zum Tempel mit dem kegelförmigen Dach hinunter, dann hielt Ali inne. Ein Dutzend Schuh- und Stiefelpaare standen draußen vor dem Eingang.
»Zieh deine Stiefel aus«, befahl er Indy. »Lass sie draußen stehen und tritt beim Durchschreiten der Tür nicht auf die Schwelle. Sag und tu nichts, es sei denn, man unterweist dich entsprechend.«
Im Innern des Tempels nahm Ali eine brennende Kerze von einem Tisch, schob einen an der gegenüberliegenden Seite der gewölbten Wand hängenden Wandteppich zur Seite und gab damit den Blick auf eine Treppenflucht frei. Neben dem Wandbehang, auf dem ein Pfau dargestellt war, stand ein Priester, einen khanjer in der Hand.
»Wird er immer bewacht?«, fragte Indy.
»Selbstverständlich«, antwortete Ali, die Stufen hinuntersteigend.
»Dies ist das Zentrum der Verehrung für alle Yezedi. Sein Alter übersteigt das Erinnerungsvermögen der Menschen. Wir können dir nicht gestatten, Zeuge unserer Rituale zu werden, aber als Scheich steht es mir zu, dir unsere am meisten verehrte Reliquie zu zeigen. Deswegen bist du schließlich hergekommen, nicht wahr?«
Indy lächelte, sagte aber nichts.
An den Wänden des Ganges befanden sich Darstellungen großer schwarzer, sich umeinander windender Schlangen. Indy vernahm das Geräusch fließenden Wassers, das immer lauter wurde, je tiefer sie hinunterstiegen.
»Was bedeuten die Schlangenbilder?«
Ali legte einen Finger an die Lippen.
Als sie das untere Treppenende erreichten, befanden sie sich in einer großen Höhle aus Granit. Ali benutzte die Kerze, um ein in Halterungen an der Wand steckendes Fackelpaar anzuzünden. In der Mitte des Raumes befand sich eine Vertiefung, und auf dem Boden dieser Vertiefung floss ein Bach aus klarem Wasser.
»Du darfst über alles Fragen stellen, außer über die Bilder an der Wand«, erläuterte All. »Sie sind das Eigentum Sheitans, und es ist uns nicht erlaubt, über sie zu sprechen.«
»Das Wasser«, sagte Indy. »Es stammt aus dem Dorfbrunnen.«
»So ist es«, bestätigte Ali. »Unsere Tempel wurden stets über unterirdischen Wasserläufen errichtet.«
Dann ging Ali hinüber zu einer in den Fels gehauenen Nische, und im Schein seiner Kerze erkannte Indy die hölzernen Türen eines sargförmigen Reliquienschreins.
Ali öffnete die Türflügel, und man erblickte ein knochenweißes Stück Holz. Es war beinahe zwei Meter lang, vermutete Indy.
Behutsam hob Ali den Stab von seinem Lager.
»Du darfst ihn in die Hand nehmen«, sagte er, »aber unter keinen Umständen darf er mit dem Boden in Berührung kommen.«
Indy nickte, dann ergriff er den Stab.
»Er ist erstaunlich leicht«, bemerkte er.
»Er ist sehr alt und hat einen Großteil seines Gewichts eingebüßt. Solltest du ihn fallen lassen, würde er zerspringen wie ein Stück Glas.«
»Halt die Kerze näher heran«, bat Indy. »Hier sind einige Markierungen, aber ich kann sie nicht entziffern. Sie sehen aus wie Hebräisch, aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen.«
»Zu meinen Lebzeiten hat er keine Wunder bewirkt«, erklärte Ali.
»Aber in der Vergangenheit hat er die Kranken geheilt. Ich weiß noch, wie mein Großvater mir von den Leprakranken und den von Dämonen Besessenen erzählte, die er wieder gesund gemacht hat.«
»Dachtest du deswegen, ich sei Arzt?«
»Es war eigentlich eher eine Hoffnung«, sagte Ali. »Wir haben fast jede Generation Besuch von einigen Fremden bekommen, die auf der Suche nach dem Stab waren, doch die hatten es stets auf Macht abgesehen.«
»War in den letzten Jahren jemals ein Engländer mit Namen Kaspar darunter?«, fragte Indy.
»Nein«, meinte Ali. »Du bist seit einer Generation der Erste.«
»Der Stab und die ...«, sagte Indy und deutete mit einem Nicken zur Treppe. »Bei uns im Westen gibt es ein Symbol, den Äskulapstab, der für das Heilen steht. Er ist eine Kombination aus den Abbildungen und diesem Stab.«
»Ich habe davon gehört«, sagte Ali.
»Wie gelangte der Stab in den Besitz deines Volkes?«
»Das wissen wir nicht genau«, sagte Ali. »Es existiert eine alte Geschichte, der zufolge der Stab und die Bundeslade zur selben Zeit aus dem Tempel Salomons gestohlen wurden, aber Genaues wissen wir darüber nicht. Es ist nur eine Geschichte.«
Indy gab Ali den Stab vorsichtig zurück und fragte, als der Scheich ihn in den Reliquienschrein zurücklegte:
»Hat vielleicht irgendjemand gefragt, ob er sich den Stab nur ausleihen könnte?«