»Das wäre vollkommen unmöglich«, erwiderte Ali. »In diesem Punkt haben wir überaus strenge Gesetze. Er muss an diesem Ort bleiben, unter unserem Schutz. Und sollte ihn tatsächlich jemand stehlen, so wird ihn ein Fluch ereilen. Nachdem wir ihm die Hände abgeschnitten haben, würde er in der Wüste angebunden und ausgeweidet werden. Welch ein Festschmaus für die Geier, was? Verrate mir, Dr. Jones, was für ein Interesse hast du an dem Stab?«
»Ein rein akademisches«, sagte Indy.
»Selbstverständlich«, meinte Ali. »Du musst wissen, es gibt nur einen Umstand, der es erlaubt, den Stab aus dem Dorf zu entfernen, und das ist in den Händen des Ersehnten, der mit Hilfe des Stabes erneut Wunder bewirken kann. Offen gesagt, mein
Freund, ich hatte gehofft, das seist du.«
»Ich bin nicht dein Mann«, erwiderte Indy. »Tut mir Leid.« »Mir auch«, sagte Ali. »Für uns ist es überaus wichtig, dass die Zeit der Wunder wiederkehrt. In meinem Traum waren sogar die himmlischen Mächte für den Willen des Erwählten empfänglich.«
»Sie haben ihn also tatsächlich gesehen«, stellte Faye fest. Sie hockten auf den Strohmatten in der Hütte, und Indy war gerade damit fertig geworden, ihr von seiner Besichtigung des Tempels und dessen unterirdischer Kammer zu berichten.
»Ja, oder zumindest einen Stock, der ihm ähnlich sieht«, sagte Indy. »Er ist sehr alt und wird in einem hölzernen Schränkchen in einer in den Felsen gehauenen Nische aufbewahrt.«
»Diese Vertiefung mit dem Brunnenwasser darin«, fragte Mystery. »Wie groß war die?«
»Ungefähr drei Fuß in der Breite.«
»Konnten Sie erkennen, wie tief das Wasser war oder die Kammer, durch die es floss?«
»Nein«, meinte Indy. »Es war zu dunkel.«
»Das dürfte schwierig werden«, meinte Faye.
»Es ist unmöglich«, widersprach Indy. »Der Tempel wird rund um die Uhr bewacht.«
»Richtig, aber nur von einem einzigen Priester«, sagte Faye.
»An ihm führt kein Weg vorbei. Selbst wenn es gelänge, ihn irgendwie zu überwältigen, müsste man sich gegen das gesamte Dorf zur Wehr setzen, um fliehen zu können.«
»Mag sein«, sagte Faye. »Es sei denn, es gelänge, ihn gegen ein Duplikat auszutauschen. Ihre Beschreibung klang nicht so, als sähe er unverwechselbar aus.«
»Hören Sie, ich möchte nicht, dass man mir die Hände abhackt und mich anschließend mitten in der Wüste anbindet, um den Geiern als Fraß zu dienen«, sagte Indy. »Es ist einfach zu riskant. Davon abgesehen wäre es auch nicht richtig. Diese Menschen haben uns zu essen gegeben und Unterschlupf gewährt.
Wir sollten es ihnen nicht zurückzahlen, indem wir ihren wertvollsten Besitz stehlen.«
»Wir könnten ihn ja zurückbringen«, schlug Faye vor.
»Es wäre immer noch Diebstahl«, sagte Indy.
»Er ist der Schlüssel zum Omega-Buch«, stellte Faye nüchtern
fest. »Vielleicht ist er auch unsere einzige Chance, Kaspar zu finden.«
»Zu riskant«, wiederholte Indy.
»Der berühmte Gelehrte, Abenteurer und Grabräuber gibt zu, dass er einer Herausforderung nicht gewachsen ist?«, fragte Mystery spöttisch.
»Ich ziehe es vor, meine Opfer erst auszurauben, wenn sie bereits ein paar tausend Jahre tot sind, und nicht, solange sie noch umherspazieren«, erwiderte Indy angesäuert. »Wir werden morgen mit dem ersten Tageslicht nach Bagdad aufbrechen. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.«
Indy saß kerzengerade auf der Strohmatte, geweckt von den Rufen der Männer und dem Klagegeschrei der Frauen in der Mitte des Dorfes. Er blickte hinüber zur anderen Seite des Raumes und sah die schlafende Faye, nicht aber Mystery. »Oh nein«, entfuhr es ihm.
»Wo steckt Mystery?«, fragte Faye, die soeben wach wurde. »Keine Ahnung«, antwortete Indy, während er seine Stiefel anzog und nach seinem zebun griff. »Aber ich fürchte, möglicherweise ist sie der Grund für die Aufregung.« Rings um den Tempel hatte sich eine Menschenmenge versammelt, und alles schien gleichzeitig auf Arabisch durcheinander zu reden.
»Was ist passiert?«, erkundigte sich Indy bei Ali.
»Der Stab ist verschwunden«, erklärte Ali. »Wir kamen zum Morgengottesdienst hierher, und er war nicht mehr da. Wo ist er?«
»Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich hätte ihn gestohlen?«
»Sonst fällt mir niemand ein«, erwiderte Ali. »Ich hätte ihn dir nicht zeigen dürfen. Das war ein Fehler.«
Ali machte eine Handbewegung, und Indy und Faye wurden bei den Armen gepackt.
»Wo ist das Mädchen?«, fragte Ali.
»Ich weiß es nicht«, sagte Indy.
»Noch einmal, wo ist der Stab?«
»Noch einmal, ich weiß es nicht«, antwortete Indy. Ali schüttelte den Kopf. Er zog seinen khanjer, dessen Klinge im rosigen Licht der Morgendämmerung schimmerte, und hielt ihn Indy unters Kinn.
»Du wirst es mir verraten«, sagte Ali. »Es wäre besser, du würdest es mir jetzt verraten und nicht später, aber verraten wirst du es mir. Weil ich nämlich damit anfangen werde, dir die Haut von dem Armen und Beinen zu schälen«, sagte er. »Deine Handflächen und Fußsohlen sind besonders empfindlich. Anschließend werde ich dasselbe mit deiner Brust und deinem Bauch anstellen, und schließlich werde ich dir das Gesicht und deinen Skalp herunterschälen. Danach werden wir dir, sobald wir den Stab wieder zurückerhalten haben, die Hände abhacken -«
»Den Rest kenne ich«, sagte Indy.
»Bindet sie an die Pflöcke«, befahl Ali.
Die Menge packte Indy und Faye bei den Händen und band sie, Arme und Beine ausgestreckt, mit Lederriemen und Holzpflöcken im Sand fest.
»Haben Sie eine Idee?«, fragte Faye.
»Keine einzige«, gestand Indy. Ali hockte mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Boden und entfernte Indys linken Stiefel. Dann zog er die Socke herunter und drückte die Messerklinge in die dünne Haut über dem Knochen.
»Wir sind ein friedliebendes Volk«, sagte er.
»Das behauptet Hitler auch«, versetzte Indy.
»Wer ist dieser Hitler?«
»Rate mal«, sagte Indy.
»Du zwingst uns dazu«, sagte er. Dann beugte Ali sich ganz nah über ihn und sagte: »Um Sheitans Willen, bitte verrate uns, wo du den Stab versteckt hast. Ich habe dich für meinen Freund gehalten.
Ich möchte dir nicht wehtun. Natürlich müssen wir dich jetzt töten, aber foltern möchte ich dich nicht.«
»Dann lass es«, sagte Indy.
Ali schüttelte den Kopf und ging daran, das Fleisch von Indys Knöchel zu schneiden. Indy biss die Zähne zusammen, konnte aber einen Schrei nicht unterdrücken, als er spürte, wie die Messerklinge am Knochen entlangscharrte.
»Halt!«, rief Mystery.
Sie tauchte aus dem Brunnen hoch, den Stab in der Hand. Ihr Haar war verfilzt, und sie war schlammverschmiert.
»Ich war es, die euren blöden Stock geklaut hat«, rief sie. »Ich habe mich in den Brunnen hinuntergelassen und bin durch den unterirdischen Bach bis in die Kammer geschwommen. Lasst sie frei.«
Ali rief zwei Männern auf Arabisch zu, sie sollten sie packen.
»Wenn ihr mich anfasst, zerbreche ich dieses Ding«, sagte Mystery. »Erst werdet ihr Indy und meine Mutter freilassen, und danach werde ich mir überlegen, ob ich das hier zurückgebe.«
Ali befahl ihnen, von den beiden abzulassen. »Wir können sie nicht freilassen«, erklärte er ihr. »So lautet unser Gesetz.«
»Dann könnt ihr euch von eurem wertvollsten Besitz verabschieden«, sagte Mystery und begann, Druck auf den Stab auszuüben. Er spannte sich über ihrem Knie wie ein Bogen, und als er zu knacken begann, hob Ali seine Hand.
»Also gut«, sagte er und befahl den anderen, Faye Maskelyne loszuschneiden.
»Was ist mit Dr. Jones?«, fragte Mystery.
»Er hat mein Vertrauen und meine Freundschaft missbraucht«, erklärte Ali. »Allein dafür muss er sterben - wie auch du für den Diebstahl des Stabes. Deine Mutter aber werde ich laufen lassen.«