»Achtzehnhundertdreiundneunzig.« »Hier ist es, Kaspar Maskelyne. Geboren am 16. Juli 1893 in Leeds.« »Das ist er.«
Indy fuhr mit dem Finger über den Text und las leise bei sich. »Und?«, fragte Mystery.
»Das Zeug lässt sich nicht so einfach lesen wie die Baseballergebnisse in der Morgenzeitung«, sagte Indy, als er ein grünes Blatt zur Hand nahm und es hinter die Seite schob. »So übermäßig fließend bin ich in Sanskrit nicht. Lass mich es eben vergleichen mit -«
Die auf- und abschwellende Musik erklang erneut. »Dr. Jones«, sagte Sokai, während er Indys schwelende Fackel in der Vorkammer mit dem Absatz eines teuren, aber reichlich zerkratzten schwarzen Schuhs austrat. »Wissen Sie nicht, dass man mit Feuer nicht so achtlos umgehen sollte?« Leutnant Musashi, die hinter ihm stand, lachte niederträchtig. Sokai zog sein Schwert aus der Scheide, als er den Raum betrat.
»Wie ich sehe, haben Sie gefunden, wonach wir alle suchen. Ist die Beute so aufregend, wie wir uns erhofft haben?« »Wo ist Sallah?«, fragte Indy. »Wir sind ihm im Gang begegnet«, antwortete Sokai. »Jetzt befindet er sich draußen bei der Frau, wo er von Stabsoffizier Miyamoto und seinen Männern bewacht wird. Treten Sie von dem Buch zurück.« Indy tat es. »Welch ein Pech für Sie, dass wir uns erneut über den Weg laufen. Ich werde mir von Ihnen als Entschädigung mehr als nur ein Auge nehmen. Ich dachte an ein Organ, das näher an Ihrem ...Herzen liegt, in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks. Das wäre durchaus passend, als Ausgangspunkt, gewissermaßen. Wir wollen doch nicht allzu schnell sterben, oder?«
»Machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen«, sagte Indy.
»Wer ist denn dieser Fiesling?«, fragte Mystery.
»Das ist Sokai«, stellte Indy ihn vor. »Mit ihm hat der ganze Ärger für mich überhaupt erst angefangen, «
»Mund halten«, herrschte Sokai ihn an, während er Musashi das Schwert reichte. »Spießen Sie sie auf, wenn sie sich rühren.«
Sokai näherte sich dem Buch, sein eines gesundes Auge funkelte im gedämpften Licht. Er beugte sich vor, um die Seite in Augenschein zu nehmen, dann runzelte er die Stirn.
»Was ist?«, spottete Indy. »Können Sie etwa kein Sanskrit?«
»Herkommen«, befahl Sokai, der nicht erkannte, dass ein anderes der bunten Blätter den Text auf Mandarin hätte sichtbar werden lassen, eine Sprache, die er lesen konnte.
Indy ging langsam zu ihm hin.
»Wie funktioniert das?«, fragte Sokai.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Indy.
»Nein, ich meinte die Eintragungen«, setzte Sokai ungeduldig hinzu. »Sie geben die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft wieder? Suchen Sie den mich betreffenden Eintrag und lesen Sie ihn mir vor. Wenn ich weiß, was vor mir liegt, kann ich die Dinge meinem Willen unterwerfen.«
»Ganz wie Sie wollen«, sagte Indy und trat an das Buch heran.
Er blätterte die Seiten langsam um.
»Beeilen Sie sich!«, fuhr Sokai ihn an.
»Das kann man nicht einfach so herunterlesen«, erwiderte Indy.
Musashi packte Mystery dicht über der Kopfhaut bei den Haaren und drehte. Mystery verbiss den Schmerz.
»Ich mache so schnell ich kann«, sagte Indy mit hasserfüllten Augen. »Sokai, geboren auf Hawaii. Ausgebildet in-«
»Das weiß ich alles«, unterbrach ihn Sokai. »Gehen Sie weiter, in die Zukunft.«
»Neunzehnhundertvierunddreißig«, las Indy. »Geblendet in der Mandschurei von einem Amerikaner, den er im Begriff war zu foltern. Er folgte ebendiesem Amerikaner, Indiana Jones, von der Mandschurei bis nach Indien und schließlich nach Ägypten.«
Indy hielt inne.
»Lesen Sie weiter!«
»Wenn Sie darauf bestehen«, meinte er. »Verbrannt unter der großen Pyramide in der Halle der Aufzeichnungen in der Totenstadt von Gizeh.«
»Nein!«
»So steht es hier geschrieben.«
Sokai schlug Indy mit dem Handrücken ins Gesicht.
»Sie lügen«, sagte Sokai.
Indy wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke das Blut von der geplatzten Unterlippe und bedachte Sokai mit einem unnachgiebigen Blick, der den Meisterspion vom Gegenteil überzeugte.
»Ändern Sie es«, befahl Sokai.
»Das kann ich nicht«, protestierte Indy. »Ich weiß ja nicht einmal, wie es überhaupt niedergeschrieben wurde.«
»Benutzen Sie einen Bleistift«, kreischte Sokai. »Sie haben doch einen Bleistift bei sich, oder etwa nicht?«
Indy zog einen Bleistift aus seiner Hemdtasche und versuchte auf der Seite zu schreiben.
»Er hinterlässt keinen Abdruck«, sagte Indy.
»Geben Sie sich etwas mehr Mühe«, tobte Sokai, »sonst wird Musashi das Mädchen töten.«
Musashi wechselte das Schwert in ihre linke Hand, zog ihre Pistole, spannte den Hahn und hielt sie an Mysterys Kopf. Bei dem Versuch, einen Abdruck zu hinterlassen, drückte Indy den Bleistift so fest auf, dass er abbrach.
Sokai packte die Seite und versuchte, sie aus dem Buch herauszureißen, sie ließ sich jedoch nicht entfernen. Er schaffte es lediglich, sich an der Kante die Hand aufzuschneiden.
»Sehen Sie«, rief Musashi.
Sokais Hosenbein begann oberhalb des Absatzes, mit dem er die Fackel ausgetreten hatte, zu qualmen.
»Mein Gott, es stimmt.«
»Nein«, schrie Sokai, als sein Hosenaufschlag in Flammen aufging. Wie von Sinnen versuchte er das Feuer zu ersticken, und als das nicht funktionierte, löste er seine Gürtelschnalle und versuchte, sich mit hektischen Bewegungen aus seiner Hose herauszuwinden. Mittlerweile hatten die Flammen auf Hemd und Wettermantel übergegriffen.
Sokai schrie. Der Gestank von verbranntem Fleisch und Haar füllte den Raum. Sokai warf sich auf den Fußboden und begann, sich zu wälzen.
»Schneiden Sie mir die Kleider herunter«, flehte er Musashi an.
Sie ließ die Pistole fallen und versuchte, ihm die Kleidungsstücke vom Körper zu schneiden, mit dem einzigen Erfolg, dass sie ihn an einem halben Dutzend Stellen mit dem Schwert verletzte. Sein Körper selbst schien zu brennen, und die Flammen schlugen immer höher, ganz gleich, wie viele Kleidungsstücke entfernt wurden.
»Mein Schwert«, krächzte Sokai und umklammerte den Griff mit einer brennenden Hand.
Sokai kämpfte sich bis zu den Knien hoch und machte einen Ausfall gegen Indy, doch der war viel zu kurz bemessen. Brocken brennenden Fleisches lösten sich von seinem Gesicht und seinen Händen. Sokai fiel auf den Rücken, das Schwert jedoch reckte er in die Höhe, bis sich das Feuer durch sein Handgelenk fraß und das Samuraischwert scheppernd auf den Granitfußboden fiel.
»Oh Gott«, sagte Mystery und lief zu Indy, wo sie ihr Gesicht in seiner Lederjacke vergrub.
Sokai war nur noch ein rauchendes Häuflein Asche.
»Möchten Sie, dass ich Ihren Namen auch vorlese?«, drohte er Musashi.
Sie zögerte, dann kniete sie neben der Asche nieder. Sie zog ihren
Schal aus und benutzte ihn, um das Samuraischwert aufzuheben.
»Wollen Sie seine Asche nicht mitnehmen?«, fragte Indy. »Oder ist es Ihnen egal, ob er sich zu seinen Vorfahren gesellt?«
»Zur Hölle mit Sokai«, rief Musashi und drohte ihnen mit dem Schwert. »Dies ist die wahre Macht!«
Dann stürzte sie aus dem Raum, und bei ihrem Verschwinden erklang ein weiteres Mal die auf- und abschwellende Musik - nur dass es diesmal ein Unheil verkündender, verminderter Dreiklang war. Die Beleuchtung wechselte von Weiß zu Rot.
»Der Klang gefällt mir überhaupt nicht«, sagte Indy.
»Meine Mutter«, rief Mystery erschrocken.
»Machen wir, dass wir hier rauskommen«, schlug Indy vor.
»Aber mein Vater -«
»Komm schon«, sagte er und zerrte Mystery aus der Halle der Wahrheit.
KAPITEL ELF
Wundertaten und Verstümmelungen
Gewitterwolken hingen dicht über dem Horizont, als Indy und Mystery zwischen den Pranken der Sphinx aus dem Schacht hervorkamen. Faye und Sallah knieten auf der Erde, in ihrem Rücken zwei Soldaten, deren Gewehre zwischen ihre Schulterblätter zielten. Jadoo hatte sich vor Faye aufgebaut und drohte ihr mit der Faust.