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Es dauerte drei oder vier Stunden, bis Marian ihre Fassung soweit zurückgewonnen hatte, daß er mit ihr reden konnte. Während der Fahrt nach Hause hatte sie bleich und zitternd auf dem Beifahrersitz neben ihm gesessen und ins Leere gestarrt, und sie hatte auch nicht reagiert, als Indiana sie ein paarmal ansprach. Und auch später in Indianas Haus hatte sie kein Wort gesprochen, ja, nicht einmal geantwortet, als er sie mehrmals fragte, ob sie damit einverstanden sei, daß er Marcus um Hilfe bat. Schließlich hatte er ihr Schweigen als Zustimmung ausgelegt und seinen alten Freund angerufen, der nicht einmal eine halbe Stunde später erschien und sich mit wachsendem Schrek-ken anhörte, was Indiana ihm erzählte. Natürlich hatte auch er sofort vorgeschlagen, zur Polizei zu gehen, aber was Indianas Zureden nicht bewirkt hatte, das erreichte dieses Wort: Als Marian das Wort Polizei hörte, fuhr sie zusammen und erwachte aus ihrer Lähmung, und so wie Indiana zuvor gelang es auch Marcus nicht, sie davon zu überzeugen, daß es wirklich das beste wäre, sich an die Behörden zu wenden. Er willigte ein, wenigstens noch so lange zu warten, bis sie Cordas Aufzeichnungen gesichtet und vielleicht ein wenig Licht in diese Angelegenheit gebracht hatten.

Was sich als wesentlich leichter gesagt als getan erwies. Das meiste von dem, was Indiana aus Stans Arbeitszimmer mitgebracht hatte, war vollkommen nutzlos. Notizen, die sich mit seiner Arbeit befaßten. Entwürfe für Vorlesungen, Querverweise auf Literatur, ganze Blätter mit völlig unverständlichen Kürzeln, die in Cordas privater Schnellschrift abgefaßt waren und die auch Marian nicht lesen konnte. Aber hier und da glaubte Indiana auch eine Spur zu sehen. Er konnte sie nicht greifen. Es waren nur Andeutungen, ein angefangener Satz, ein Wort hier, ein Begriff da, Längen- und Breitenangaben, die aber verschlüsselt zu sein schienen, denn sie ergaben nicht den mindesten Sinn, als Indiana sie auf einer Karte nachzuvollziehen versuchte — aber er hatte plötzlich das Gefühl, der Lösung sehr nahe zu sein. Was immer Stanley da auf Dutzenden von eng bekritzelten Blättern entworfen hatte, ergab einen Sinn. Nur schien er ihm jedesmal zu entschlüpfen, wenn er die Hand danach ausstrecken wollte. Aber das änderte nichts daran, daß es ihn gab.

Es begann bereits zu dämmern, als Marcus und er vorläufig aufgaben. Indianas Kopf schwirrte von all den scheinbar sinnlosen Informationen, die er aufgenommen und aus denen er versucht hatte, ein Muster zu sortieren, und seine Augen brannten, denn Stanleys Handschrift war nicht nur nahezu unleserlich, sondern auch so winzig, daß er das Alte Testament damit bequem auf drei Seiten hätte packen können. Erschöpft lehnte sich Indiana zurück und griff nach der Tasse mit längst kalt gewordenem Kaffee, den Marian vor zwei oder drei Stunden zubereitet hatte. Sein Wohnzimmer unterschied sich mittlerweile kaum noch von dem der Cordas — auf dem Tisch, der Couch, den Stühlen, dem Kaminsims und dem Boden stapelten sich Bücher und Papiere, und die Luft war zum Schneiden dick vom Qualm der Pfeife, die Marcus rauchte. Auch er sah müde aus; seine Augen waren rot und hatten dunkle Ringe, und der Ausdruck auf seinem Gesicht schwankte zwischen irritiert und erschrocken. Offensichtlich erging es ihm genau wie Indiana. Sie beide spürten, daß sich in diesem scheinbar sinnlosen Durcheinander etwas verbarg, etwas Großes und Bedeutendes.

«Stanley muß doch irgend etwas gesagt haben«, murmelte Indiana müde und wahrscheinlich zum zweihundertsten Mal im Verlaufe des Nachmittags. Und zum genausovielten Male antwortete Marian nicht darauf.

«Er hat sich ziemlich verändert in den letzten Wochen«, sagte Marcus, während er sich zurücklehnte und schon wieder Tabak in seine gerade erst erloschene Pfeife stopfte. Indiana sah ihn fragend an.»Du kannst ihn nicht besonders gut leiden, ich weiß«, sagte Marcus.»Deshalb hast du wahrscheinlich auch nicht so sehr auf ihn geachtet. Ich schon.«

«Und?«

Marcus zuckte mit den Achseln.»Nichts — und«, sagte er.»Er war schon immer ziemlich verschlossen, aber in den letzten Wochen hat er kaum noch mit jemandem geredet. Einige seiner Studenten haben sich schon über ihn beschwert, weil er so unhöflich war und praktisch keine Fragen mehr beantwortet hat, die nicht während der Vorlesung gestellt wurden.«

Indiana sah Marian fragend an, aber sie wich seinem Blick aus und starrte in die flackernden Flammen des Kaminfeuers.

«Machen wir Schluß für heute«, schlug Marcus seufzend vor.»Ich schlage vor, ich fahre noch einmal an eurem Haus vorbei und sehe dort nach dem Rechten.«

«Kommt nicht in Frage«, antwortete Indiana an Marians Stelle.»Es könnte sein, daß du dort auf jemand anderen als Stanley triffst.«

Marcus nahm die Pfeife aus dem Mund und fuhr sich müde mit Daumen und Zeigefinger über die Augen.»Ich habe nicht vor, hineinzugehen«, sagte er.»Niemand wird Verdacht schöpfen, wenn ich daran vorbeifahre. Schließlich kennen die Burschen mich nicht. «Er zögerte einen Moment, wandte sich dann an Marian und fügte hinzu:»Sie sollten doch die Polizei rufen, meine Liebe. Ich weiß zwar immer noch nicht, was hier vorgeht, aber mit den Burschen ist offensichtlich nicht zu spaßen.«

Marian schüttelte nur den Kopf.»Lassen Sie mich wenigstens noch bis morgen damit warten. Es … gibt vielleicht noch eine Spur.«

Indiana war das unmerkliche Stocken in ihren Worten sehr wohl aufgefallen. Fragend und schon wieder ein bißchen alarmiert sah er Marian an.»Welche Spur?«

Wieder wich sie seinem Blick aus.»Morgen«, sagte sie. Sie stand auf.»Mr. Brody hat recht, Indiana. Es war ein anstrengender Tag, für uns alle. Ich werde jetzt gehen — «

«Unsinn!«unterbrach sie Indiana.»Du gehst nirgendwohin! Die Burschen werden wiederkommen.«

«Ich will dich nicht in Gefahr bringen.«

«Das tust du nicht«, antwortete Indiana mit einer Überzeugung in der Stimme, die ihm selbst etwas künstlich vorkam. Trotzdem fügte er hinzu:»Du bist hier in Sicherheit. Und ich auch. Wenn sie wüßten, wer ich bin und wo ich wohne, wären sie längst hier aufgetaucht.«

Marian widersprach nicht mehr, aber sie sah ihn sehr zweifelnd an, und Indiana hatte plötzlich das ungute Gefühl, daß es alles andere als eine ruhige Nacht werden würde.

Er sollte recht behalten.

Am nächsten Morgen erschien Dr. Henry Jones jun. zum ersten Mal in seiner Zeit an der Universität unpünktlich zu einer Vorlesung. Seine Studenten empfingen ihn mit einem schadenfrohen Applaus, als er, unordentlich gekleidet und mit wirrem Haar, in den Hörsaal stolperte, und wie es die Art von Studenten im zweiten Semester ist, taten sie ihr Bestes, um ihm während der Vorlesung das Leben schwerzumachen.

Nicht, daß das noch nötig gewesen wäre. Indiana hatte sehr schlecht geschlafen. Nach einem halbherzigen Versuch, das Chaos in seinem Wohnzimmer wieder zu beseitigen, waren Marian und er früh zu Bett gegangen, aber keiner von ihnen hatte mehr als eine oder zwei Stunden Schlaf gefunden in dieser Nacht. Indiana war bei jedem noch so winzigen Geräusch hochgeschreckt, und ein paarmal hatte er gehört, wie auch Ma-rian sich im Zimmer nebenan unruhig im Bett hin- und herwälzte. Zweimal war er aufgestanden und zum Fenster gegangen, als er draußen auf der Straße Geräusche hörte, aber es waren nur harmlose nächtliche Spaziergänger gewesen, die sich unterhielten.

Er verstand selbst nicht, warum er so nervös war. Gefahr — auch Lebensgefahr! — gehörte zu dem Leben, das er führte, wenn er nicht als Dozent an der Universität tätig war. Es war weiß Gott nicht das erste Mal, daß er sich mit seinen Fäusten hatte zur Wehr setzen müssen, und auch nicht das erste Mal, daß jemand versucht hatte, ihn umzubringen. Und trotzdem gab es einen Unterschied: Bisher war stets er es gewesen, der diese friedliche Welt verließ und sich in die weit weniger friedliche, aber sehr viel aufregendere draußen stürzte. Er hatte die Gefahr gesucht, nicht sie ihn. Diesmal war es umgekehrt. Etwas war in sein so übersichtlich geordnetes Zuhause eingebrochen, und plötzlich war nicht mehr er es, der die Initiative übernahm, sondern andere; Menschen, von denen er nicht wußte, wer sie waren, geschweige denn, warum sie taten, was sie taten. Das Gefühl, nicht zu agieren, sondern nur noch zu reagieren, machte ihn nervös.