Bevor Indiana weiterreden konnte, klopfte es an der Tür. Er stand auf, bedeutete Marcus mit Gesten, die Papiere verschwinden zu lassen, und ging langsam weiter zur Tür. Das Klopfen wiederholte sich, kurz bevor er sie erreicht hatte, und diesmal klang es rasch und nervös. Trotzdem legte Indiana die Kette vor und trat einen halben Schritt zur Seite, ehe er die Klinke herunterdrückte.
Draußen vor dem Haus stand Marian, und als Indiana den gehetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, hatte er es plötzlich sehr eilig, die Kette wieder zu entfernen und die Tür aufzureißen.
Mit einem raschen Griff zog er Marian zu sich herein und sah sich blitzschnell auf der Straße um, ehe er die Tür wieder zudrückte.
«Marian! Wo bist du gewesen? Hast du Stan gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf und blickte instinktiv auf die geschlossene Tür hinter sich, so daß Indiana sofort hinzufügte:»Verfolgt dich jemand?«
«Ich bin nicht sicher«, antwortete sie zögernd. Indiana bugsierte Marian mit sanfter Gewalt zur Couch und gab Marcus einen Wink:»Erzähl es ihr«, sagte er.»Alles. «Dann eilte er zur Tür zurück, trat an das schmale Fenster daneben und zog die Gardine einen Spaltbreit zur Seite.
Im ersten Moment sah er nichts, die Straße lag so ruhig und friedlich vor ihm, wie er sie seit Jahren kannte, und nur dann und wann kam ein Fußgänger oder ein einzelnes Auto vorbei. Indiana blieb sicherlich fünf Minuten am Fenster stehen, während Marcus und Marian sich mit gedämpften Stimmen hinter ihm unterhielten, und er wollte schon aufgeben und sich zu ihnen gesellen, als das gleiche einsame Automobil zum dritten Mal zufällig die Straße hinabfuhr. Indiana erhaschte einen flüchtigen Blick auf die beiden Männer in der Fahrerkabine, nicht schnell genug, um sie zu identifizieren, aber immerhin sah er, wer sie nicht waren, nämlich Reuben und Henley, die beiden FBI-Männer. Er blickte dem Wagen nach, bis er aus seinem Gesichtskreis verschwunden war, dann ließ er die Gardine zurückgleiten und ging zu Marian und Brody zurück.
«Du hattest recht«, sagte er, an Marian gewandt.»Jemand verfolgt dich.«
Marian erschrak sichtbar, und Indiana hob beruhigend die Hand.»Ich glaube nicht, daß sie hierher kommen«, sagte er.»Wenn sie das wollten, hätten sie es längst getan. Offenbar beschatten sie dich nur. Nicht besonders geschickt.«
«Das FBI?«fragte Brody.
Indiana verneinte.»Nein. Die beiden sind zwar nicht gerade helle, aber so blöd nun auch wieder nicht. Das da draußen sind Amateure. Ich fürchte, wir haben es nicht nur mit ihnen zu tun.«
«Das müssen die Burschen sein, die euch beide gestern in Stanleys Haus überfallen haben«, vermutete Brody.
Indiana sah Marian fragend an, aber wieder blickte sie nur weg.»Bitte denk genau nach, Marian«, sagte er eindringlich.»Du mußt dich doch an irgend etwas erinnern. Du hast erzählt, Stan hätte sich manchmal mit seltsamen Leuten getroffen. Hat er nie einen Namen genannt? Oder eine Adresse, einen Treffpunkt … irgend etwas?«
Marian schüttelte schon fast automatisch den Kopf, stockte aber dann und überlegte einen Moment.»Einen Namen nicht«, sagte sie schließlich.»Aber einmal rief jemand an. Stan war im Bad und hatte vergessen, die Tür seines Arbeitszimmers abzuschließen. Er ist ziemlich wütend geworden, daß ich überhaupt ans Telefon gegangen bin.«
«Wer hat angerufen?«hakte Indiana nach.
«Ich erinnere mich nicht genau«, sagte Marian unglücklich.»Ein Mr. Rogers oder Rudgers oder so ähnlich …«Sie zuckte mit den Schultern und sah Indiana fast verlegen an.»Aber er war Antiquitätenhändler, soviel weiß ich noch.«
«Antiquitätenhändler?«Indiana runzelte zweifelnd die Stirn. Er kannte jeden Antiquitätenhändler in der Stadt; sowohl die offiziellen als auch die, die ihre Geschäfte nicht mit dem gleichen Maß an Legalität betrieben, vorsichtig ausgedrückt. Diese sogar ganz besonders gut. Aber einen Namen wie den, den Ma-rian gerade genannt hatte, hatte er noch nie gehört.
«Bist du sicher?«
«Ja«, antwortete Marian.»Ich erinnere mich jetzt sogar an die Adresse. Kensington Drive 194.«
Indiana tauschte einen überraschten Blick mit Marcus. Es wunderte ihn allerdings nicht so sehr, daß Marian sich so genau an die Adresse des Antiquitätenhändlers erinnern konnte — trotz seines vornehmen Namens war der Kensington Drive die mit Abstand berüchtigtste Straße der Stadt; eine jener Straßen, die man selbst bei hellem Tageslicht besser mied, wenn man nicht entweder lebensmüde oder Mitglied einer der zahllosen Straßengangs war, die das Viertel beherrschten.
«Bist du sicher?«vergewisserte er sich.
Marian nickte.»Ich habe Stan noch gefragt, was er in dieser Gegend verloren hat, aber er hat nicht geantwortet.«
Indiana stand auf.»Nun, dann werden wir am besten diesen Mr. Rogers fragen, wie immer er genau heißen mag.«
Marcus wurde ein bißchen blaß und nahm die Pfeife aus dem Mund.»Du willst doch nicht etwa dort hingehen?«
«Nicht unbedingt«, antwortete Indiana.»Wenn du mir den Weg abnehmen willst …«
Marcus’ Gesicht verlor noch mehr an Farbe.»Das ist nicht ungefährlich«, sagte er nervös.
«Ich weiß. Aber Gefahr ist mein zweiter Vorname.«»Und Leichtsinn dein dritter«, fügte Marcus düster hinzu.»Du bist verrückt.«»Wem sagst du das?«seufzte Indiana.
Bei Tageslicht wirkte der Kensington Drive vielleicht noch unheimlicher als bei Nacht. Das lag zum einen natürlich daran, daß Indiana nach Dunkelwerden hier tatsächlich noch nie gewesen war, mit Ausnahme einer einzigen Gelegenheit, bei der er sehr schnell mit dem Wagen das Viertel durchquert und dabei gebetet hatte, nur ja keine Reifenpanne zu haben oder auf andere Weise aufgehalten zu werden. Aber es lag auch daran, daß das helle Sonnenlicht gnadenlos die ganze Schäbigkeit des Viertels enthüllte. Dabei handelte es sich nicht einmal um das ärmste Viertel der Stadt. Aber die Häuser rechts und links des Kensington Drive waren eben auf eine ganz bestimmte Weise heruntergekommen: dicke puertoricanische Frauen lehnten auf Kissen in weitgeöffneten Fenstern und beobachteten den spärlichen Verkehr, Farbige in Leinenhosen und weißen Unterhemden standen in Hauseingängen und beäugten den Eindringling mißtrauisch, schmuddelige Kinder spielten lärmend auf der Straße oder rannten dem Wagen einige Schritte hinterher, zwielichtige Gestalten, die ihre vernarbten Gesichter hinter Bärten verbargen, spannten sich beim Anblick des altersschwachen Fords und verschwanden blitzschnell in Türen, ehe sie noch erkennen konnten, daß der Mann mit dem speckigen Filzhut vielleicht nicht ihresgleichen, aber auch ganz gewiß kein Polizist war. Vor einigen Häusern standen auch Automobile, protzig und chromblitzend und wahrscheinlich teurer als die Gebäude, vor denen sie abgestellt waren, und es gab eine ganze Anzahl von Spelunken und Spielhöllen und kleineren Läden, deren Auslagen etwas vortäuschten, was in den Geschäften dahinter ganz und gar nicht gehandelt wurde. Indiana fuhr langsamer, als er sich dem Haus mit der Nummer 194 näherte. Er war nervös, und er war sich der Tatsache bewußt, daß man ihm seine Nervosität ansehen konnte, obwohl er sich alle Mühe gab, äußerlich gelassen zu erscheinen. Und das war nicht gut; nicht in einer Gegend wie dieser. Indiana Jones hatte genug Erfahrung im Umgang mit zwielichtigen Subjekten und Verbrechern, um zu wissen, daß sie und deutsche Schäferhunde eine Gemeinsamkeit haben: Beide spüren, wenn man Angst vor ihnen hat. Und beide macht diese Furcht aggressiv und reizt sie zum Angriff.
Aber er hatte sich gut vorbereitet; so gut eben, wie man sich auf etwas vorbereiten kann, von dem man nicht einmal genau weiß, was es ist. In seiner rechten Jackentasche trug er einen zweischüssigen Damenrevolver, der zwar nur auf kurze Distanz wirksam war, dafür aber den Vorteil hatte, daß man ihn in der geschlossenen Hand verbergen konnte, und auf dem Beifahrersitz des Fords lag die zusammengerollte Löwenpeitsche, die er nun schon so lange hatte und die ihm mehr als einmal gute Dienste erwiesen hatte. Er hatte Marcus eingeschärft, die Straße im Auge zu behalten und sofort die Polizei anzurufen, falls sich dort irgend etwas Verdächtiges tat. Und dasselbe zu tun, wenn er nach Ablauf von zwei Stunden nicht zurück war oder sich auf anderem Wege bei ihnen meldete. Schließlich erreichte er das Haus, lenkte den Wagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Sorgsam befestigte er die Peitsche an seinem Gürtel, verbarg sie unter der Jacke, so gut es ging, und stieg aus. Ganz automatisch wollte er die Tür verriegeln, zog den Schlüssel dann aber wieder aus dem Schloß, ohne ihn herumgedreht zu haben. Etwas so Simples wie das Türschloß eines Fords würde niemanden in dieser Gegend länger als zehn Sekunden aufhalten; und wenn sie sich schon an seinem Wagen zu schaffen machten, dann sollten sie wenigstens nicht die Scheiben einschlagen.