«Welches ist es?«fragte Rogers und stellte die Tabletts auf den Schreibtisch.
Indiana trat näher heran und beugte sich neugierig vor. Zögernd streckte er die Hand nach einem der kleinen Goldgegenstände aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Irgendwie hatte er plötzlich das Gefühl, daß es besser sein könnte, sie nicht anzufassen. Er wußte nicht, woher diese Ahnung kam, aber sie war zu deutlich, als daß er sie ignorieren konnte. Da war irgend etwas, was er gehört hatte, irgend etwas, was man ihm erzählt — oder vielleicht gerade nicht gesagt — hatte, und da war irgend etwas mit Rogers, das nicht stimmte.
«Ist das alles?«fragte er, während er sich wieder aufrichtete.
«Ja«, antwortete Rogers.»Es — «
Das Geräusch der Glocke über der Tür unterbrach ihn. Fast erschrocken drehte er sich herum, machte einen Schritt zur Tür und blieb wieder stehen. Draußen war eine Frauenstimme zu hören, die Indianas Namen rief. Rogers musterte abwechselnd Indiana und den offenstehenden Safe. Ganz offensichtlich gefiel ihm der Gedanke nicht, den Fremden mit all diesen Kostbarkeiten allein zu lassen. Aber noch bevor er dazu kam, etwas zu sagen, hörten sie näher kommende Schritte, und dann wurde die Tür zu seinem Büro so hastig aufgestoßen, daß sie knallend gegen die Wand flog. Unter dem Eingang erschien –
«Marian!«rief Indiana überrascht.»Was tust du denn hier?«
Rogers fuhr zusammen und starrte abwechselnd ihn und Cor-das Frau wütend an.»Was hat das zu bedeuten?«schnappte er.»Wer ist diese Frau?«
«Sie sind hinter mir her!«sagte Marian atemlos.»Sie haben Marcus überfallen und — «
Der Rest ihrer Worte ging in Klirren von Glas und dem Geräusch von zerbrechendem Holz unter.
Marian machte einen weiteren stolpernden Schritt und fiel Indiana halbwegs in die Arme, während Rogers erschrocken aufschrie und versuchte, seinen Goldschatz vom Schreibtisch zu raffen und wieder in den Tresor zurückzustopfen; natürlich viel zu hastig und mit dem Ergebnis, daß ihm die Hälfte davon herunterfiel. Indiana registrierte fast nebenbei, daß eines der Stücke dabei in zwei Teile zerbrach. Aber er verschwendete kaum mehr als einen flüchtigen Gedanken daran, denn er hatte alle Hände voll damit zu tun, Marian zu beruhigen, die sich aus seinem Griff befreit hatte und so schnell abgehackte Sätze hervorsprudelte, daß er nur Bruchstücke verstand:»Marcus, FBI und Männer.«
Allerdings verging kaum eine Sekunde, bis er auch so begriff, was geschehen war: Das Splittern von Holz wiederholte sich, und fast im selben Moment erschien eine hünenhafte Gestalt unter der Tür zu Rogers’ Allerheiligstem. Indiana erschrak ein zweites Mal und diesmal sehr viel heftiger, als er ihn erkannte. Sein Gesicht hatte sich zwar auf dramatische Weise verändert, aber es war unzweifelhaft der gleiche Bursche, der gestern zusammen mit den beiden anderen in Stanleys Haus eingebrochen war.
Der andere schien ihn fast gleichzeitig auch zu erkennen, und in seinen dicht beieinander stehenden Augen erschien ein tük-kisches Funkeln. Er machte einen Schritt auf Indiana zu, fegte Marian mit einer fast beiläufigen Bewegung zur Seite und streckte die Arme aus.
Indiana wartete bis zum letzten Moment, dann duckte er sich, packte den ausgestreckten Arm des Riesen, zerrte mit aller Kraft daran, drehte sich gleichzeitig halb um seine eigene Achse und verlagerte sein Körpergewicht ruckartig nach vorn, so daß dem Angreifer seine eigene Kraft zum Verhängnis wurde und er über seine gekrümmte Schulter hinwegflog.
Theoretisch.
Sein Kopf tat ihm so weh, daß er sich im allerersten Moment ganz ernsthaft wünschte, gar nicht mehr aufgewacht, sondern gleich gestorben zu sein. Er war gefesselt und lag auf der Seite auf nacktem Stein- oder Betonboden, und rings um ihn herum herrschte Finsternis, die nur von einem bleichen, grauen Schimmern durchbrochen wurde. Aber so schwach dieses Licht war, ließ es ihn doch abermals vor Schmerz aufstöhnen, als er die Augen öffnete.
Hastig senkte er die Lider wieder und biß die Zähne zusammen, um einen neuerlichen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Das Hämmern in seinem Hinterkopf ließ allmählich nach und war jetzt nicht mehr unvorstellbar, sondern nur noch unerträglich, und im gleichen Maße, wie der Schmerz verebbte, begann er seine Umgebung deutlicher wahrzunehmen.
Er sah nicht sehr viel, denn das graue Licht war zu schwach, um mehr als vage Umrisse aus der Dämmerung hervorzuheben, aber er hörte ein leises Stöhnen und die Geräusche eines oder mehrerer Menschen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe bewegten. Dann flüsterte eine Stimme seinen Namen. Eine Stimme, die er sehr gut kannte. Aber der Schmerz in seinem Kopf war noch zu heftig, als daß er einen klaren Gedanken fassen konnte.
«Er kommt zu sich.«
Eine andere Stimme, die er nach einigen Augenblicken als die von Marian identifizierte.»Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, dieser Riesenkerl hätte ihn umgebracht.«
«Keine Sorge — er hat einen harten Schädel. In jeder Beziehung.«
Diesmal konnte er die Stimme identifizieren. Mit einem überraschten Ruck drehte er sich herum und setzte sich halb auf — was er im selben Sekundenbruchteil schon bitter bereute, denn das Dröhnen in seinem Hinterkopf steigerte sich zum Trommelfeuer einer ganzen Batterie schwerer Schiffsgeschütze. Stöhnend schloß er die Augen und ließ sich wieder nach vorn sinken, bis seine Stirn den grauen Betonboden berührte. Erst nach einigen Sekunden und sehr viel vorsichtiger als das erste Mal wagte er es, sich erneut aufzurichten und den Kopf in die Richtung zu drehen, aus der er Marians und Marcus’ Stimmen gehört hatte. Obwohl sie kaum fünf Meter von ihm entfernt waren, konnte er sie nur als Schatten in der Dunkelheit wahrnehmen.
«Marcus?«fragte er überrascht.»Was tust du hier?«
«Dasselbe wie du«, antwortete Marcus gelassen.»Gefesseltsein.«
Auch ohne den hämmernden Schmerz in seinem Kopf wäre Indiana im Moment nicht nach Scherzen zumute gewesen. Aber er beherrschte sich und schluckte die ärgerliche Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter.»Was ist passiert?«fragte er gepreßt.
«Sie haben uns hereingelegt«, sagte Marcus.»Sie sind gekommen, als du gerade weg warst.«
«Diese Gangster?«
Er hörte, wie Marcus den Kopf schüttelte.»Die beiden FBIMänner, von denen du erzählt hast. Sie haben eine Menge dummer Fragen gestellt.«
«Und?«fragte Indiana, als Marcus nicht weitersprach.
Brody zögerte auch jetzt noch einen Moment.»Ich konnte sie abwimmeln«, sagte er dann.»Aber kaum eine Minute später klopfte es schon wieder. Ich bin zur Tür gegangen und dachte, sie hätten noch etwas vergessen oder …«
«Oder?«hakte Indiana nach.
«Ich weiß, es war leichtsinnig«, gestand Marcus zerknirscht.»Diese Schufte müssen draußen gewartet und uns die ganze Zeit beobachtet haben. Ich hatte kaum die Tür geöffnet, da hat mich auch schon einer von ihnen gepackt, und der andere hat sich gleichzeitig auf Marian gestürzt. Es … es tut mir leid. Ich wollte ihnen nicht verraten, wo du bist. Aber …«
Marcus sprach nicht weiter, und auch Indiana schwieg. Er konnte sich vorstellen, wie Brody zumute war. Aber er spürte nicht einmal Ärger. Marcus Brody war kein Held. Er hatte auch niemals behauptet, einer zu sein. Und außerdem hatte Indiana berechtigte Zweifel, ob es überhaupt irgend jemanden auf der Welt gab, der dem Riesenkerl, der ihn vorhin niedergeschlagen hatte, länger als einige Sekunden eine Antwort verweigern konnte.
«Es tut mir leid, Indiana«, murmelte nun auch Marian.»Aber sie haben mich gezwungen, sie zu dir zu bringen. Ich habe mich losgerissen, als wir aus dem Wagen stiegen, aber sie waren zu schnell.«