Schild hinwegtrat und quer über die sorgfältig manikürte Wiese auf das Universitätsgebäude zuging. Für einen Moment rechnete er beinahe damit, daß die beiden ihm einfach hinterherfahren würden, aber so weit ging die Dreistigkeit seiner Verfolger dann doch nicht. Als er die Treppe hinaufging und das Gebäude betrat, fuhr der graue Lieferwagen im Schrittempo auf der Straße vorbei und verschwand hinter der nächsten Biegung.
Obwohl Samstag war und die Semesterferien bereits ihre Schatten vorauswarfen, herrschte auf dem Campus und auch hier drinnen noch ein reges Kommen und Gehen. Studenten bevölkerten die Flure, standen in großen und kleinen Gruppen herum und redeten oder strebten der Bibliothek oder einem der Lesesäle zu, und Indiana begegnete auch einigen seiner Kollegen. Zweimal bereitete es ihm einige Mühe, nicht in ein Gespräch hineingezogen zu werden, und einmal machte er im letzten Moment eine blitzschnelle Wendung nach rechts und floh in einen verwaisten Hörsaal, als er Grisswalds Gestalt am oberen Ende der Treppe vor sich auftauchen sah. Aber schließlich erreichte er doch unbehelligt sein Zieclass="underline" Stanley Cordas Büro.
Und diesmal war das Glück ausnahmsweise einmal auf seiner Seite — sogar gleich zweimal. Cordas Büro war nicht abgeschlossen, und der makellos aufgeräumte Schreibtisch seiner Sekretärin verriet, daß sie an diesem Morgen nicht zum Dienst erschienen war.
Indiana warf einen sichernden Blick auf den Flur hinaus, zog die Tür hinter sich zu und begann dann rasch, aber sehr gründlich, Stanley Cordas Schreibtisch zu durchsuchen.
Er brauchte sehr lange dazu, denn das Dutzend Schubladen war bis zum Bersten vollgestopft. Aber sein anfänglicher Optimismus wurde bald schwächer und schlug schließlich in Enttäuschung um, denn er fand nichts, was ihm irgendwie weiterhalf. Wie es aussah, beschränkte sich der Inhalt dieses Schreibtisches ausschließlich auf Cordas Arbeit hier an der Universität. Schließlich gab er enttäuscht auf, beseitigte das Chaos, das er angerichtet hatte, so gut er konnte, und ging wieder zur Tür. Er streckte die Hand nach der Klinke aus, zog sie wieder zurück und drehte sich noch einmal um, um sich diesmal dem Arbeitsplatz von Stans Sekretärin zuzuwenden. Vielleicht …
Er fand fast auf Anhieb, wonach er gesucht hatte, und es war beinahe schon zu leicht. Auf dem obersten Blatt des aufgeschlagenen Terminkalenders, das das Tagesdatum zeigte, waren eine Telefonnummer und die Worte: Dr. Benson, 14.30 Uhr notiert.
Aufgeregt streckte Indiana die Hand aus, um das Blatt kurzerhand herauszureißen, besann sich dann aber eines Besseren und suchte in der Schublade nach einem Blatt Papier und einem Stift, um sich Telefonnummer und Namen des Arztes aufzuschreiben. Er hatte keinen Beweis, daß ihm sein Fund weiterhalf, aber er erinnerte sich plötzlich zweier Dinge, denen er bisher kaum Beachtung geschenkt hatte: Reubens Bemerkung, daß mehrere von Stans» Kunden «krank geworden seien, und Marians kaum merklichem Zusammenzucken, als er Marcus in ihrer Gegenwart davon erzählte.
Indiana war so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, daß er weder das Geräusch der Tür registrierte, die sich leise hinter ihm öffnete, ohne wieder geschlossen zu werden, noch die Schritte, die sich ihm ebenso leise näherten und kaum einen Meter hinter ihm stockten.
«Was tun Sie da, Dr. Jones?«
Indiana fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und spannte sich, auf einen Angriff gefaßt. Aber hinter ihm standen weder Reuben noch Henley noch einer von Ramos’ Schlägern. Trotzdem war ihm der Anblick der dunkelhaarigen, in einen maßgeschneiderten grauen Anzug gehüllten Gestalt mindestens ebenso unangenehm.
«Ich wiederhole meine Frage, Dr. Jones«, sagte Grisswald.»Was tun Sie da?«Der Blick seiner ärgerlich funkelnden Augen irrte zwischen Indianas Gesicht und dem Zettel in seiner rechten Hand hin und her.
«Nichts«, antwortete Indiana unsicher.
«Nichts?«Grisswalds Stirnrunzeln wurde noch tiefer. Anklagend deutete er mit dem Zeigefinger auf Indianas rechte Hand, die vergeblich versuchte, den kleinen Zettel vor seinen Blicken zu verbergen.»Das da sieht mir nicht nach nichts aus.«
Indiana entspannte sich wieder ein wenig und zog eine leichte Grimasse.»Das ist privat«, sagte er.
«Privat, so?«Grisswalds Zorn erlosch und machte einem überheblichen Lächeln Platz.»Falls es Ihrer Aufmerksamkeit bisher entgangen ist, Dr. Jones«, sagte er mit einem süffisanten Grinsen,»Sie befinden sich hier auf dem Gelände der Universität. Nichts, und ich betone: gar nichts, was hier vorgeht, ist in irgendeiner Weise privat. «Er streckte herausfordernd die Hand aus.»Bitte, händigen Sie mir diesen Zettel aus.«
«Ich sagte bereits, es ist privat«, beharrte Indiana stur.
«Und ich sagte — «
Grisswald kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu bringen, denn in der geöffneten Tür hinter ihm erschienen plötzlich zwei Gestalten. Und auch wenn Grisswald nichts sah, so registrierte er doch den erschrockenen Ausdruck auf Indianas Gesicht und drehte sich instinktiv herum — um mit einem fast komisch klingenden Schreckenslaut einen Schritt zurück und gegen Indiana zu prallen, die Hände in Schulterhöhe erhoben. Sein Erschrecken galt allerdings weniger dem Anblick der beiden Männer in der offenen Tür als vielmehr der abgesägten Schrotflinte, mit der einer der beiden auf ihn zielte.
«Was …?«krächzte Grisswald.
«Schnauze!«unterbrach ihn einer der beiden grob. Es war der mit dem Gewehr. Indiana erkannte ihn jetzt als einen der beiden, die ihm im Wagen gefolgt waren. Der unsauber abgesägte Doppellauf seiner Flinte fuchtelte einen Moment lang vor Grisswalds Gesicht herum und richtete sich dann auf Indianas Magen.
«Aber uns werden Sie Ihren Fund doch aushändigen, oder?«fragte er feixend. Sein Zeigefinger fummelte nervös am Abzug herum, und Indiana versuchte vergeblich, einen Schritt zurück und zur Seite zu machen, um aus der direkten Schußlinie zu gelangen. Es ging nicht. Hinter ihm stand der Schreibtisch und vor ihm Grisswald, der noch dazu auf seinem Fuß stand und ihn mit dem Absatz an den Boden nagelte. Der Schmerz trieb Indiana fast die Tränen in die Augen.
«Wer … wer sind Sie?«krächzte Grisswald.»Was fällt Ihnen ein —?«
Es schien sein Fluch zu sein, an diesem Morgen keinen Satz ganz zu Ende bringen zu können, denn der Bursche mit dem Gewehr schüttelte mit einem lautlosen Seufzen den Kopf, machte eine fast beiläufige Bewegung und rammte Grisswald den Lauf seiner Waffe in den Magen. Mit einem keuchenden Schmerzenslaut klappte der Dekan zusammen, fand im letzten Moment Halt an der Tischkante und blieb gekrümmt und vor Schmerz stöhnend stehen — allerdings noch immer, ohne den Fuß von Indianas Zehen zu nehmen.
«Also?«fuhr der Gangster mit einer herausfordernden Handbewegung fort.»Was haben Sie da, Jones?«
«Das nutzt Ihnen nichts«, sagte Indiana.»Was soll dieser. Überfall? Ich habe Ramos mein Wort gegeben — «
Auch er wurde unterbrochen.»Vielleicht glaubt Ihnen Mr. Ramos aber nicht«, erklärte der Bursche mit dem Gewehr grinsend.»Geben Sie schon her!«
«Damit können Sie überhaupt nichts anfangen«, beharrte Indiana auf seiner Einschätzung, und vom Flur her fügte eine Stimme hinzu:
«Aber wir vielleicht.«
Die beiden Ganoven drehten sich verblüfft um — und erstarrten ebenso wie Grisswald vor ihnen, denn nun waren sie es, die direkt in die Läufe zweier großkalibriger Pistolen starrten, die sich vom Korridor her auf ihre Gesichter richteten. Die dazugehörigen Hände ragten aus den Ärmeln dunkelblauer, maßgeschneiderter Anzüge, die zwei auffallend große, breitschultrige Gestalten verhüllten. Einer der beiden Männer schob sich jetzt ins Zimmer, wobei er genau darauf achtete, weder Grisswald noch Indiana zwischen sich und die beiden Gangster geraten zu lassen, während der andere, seine Pistole unverrückbar weiter auf die Stirn des Mannes mit dem Schrotgewehr (das übrigens noch immer auf Indianas Magen gerichtet war) haltend, mit der freien Hand ein schmales Lederetui aus der Tasche zog und es aufklappte. Es enthielt einen Ausweis der gleichen Art, wie Indiana ihn schon bei Reuben gesehen hatte.