«Was … was soll das?«fragte Indiana fassungslos, als Reuben einige Augenblicke später zu ihm zurückkehrte.»Sind Sie verrückt geworden? Wieso lassen Sie anhalten?«
«Ich muß wissen, was da los ist«, antwortete Reuben ernst.»Ich verstehe das nicht.«
«Aber ich«, antwortete Indiana.»Sie wollen uns umbringen.«
Reuben schüttelte den Kopf.»Man hat mir versichert, daß diese Indianer vollkommen friedlich sind«, sagte er.»Und außerdem sind sie vielleicht primitiv, aber nicht dumm. Sie müssen wissen, daß sie keine Chance gegen uns haben.«
Zumindest was das anging, schien Reuben sich zu irren, denn im selben Moment prasselte eine weitere Pfeilsalve auf das Schiff herab. Eines der winzigen Geschosse verfehlte den FBIBeamten nur um Zentimeter, und Reuben wurde sichtlich blaß. Trotzdem bedeutete er dem Steuermann mit befehlenden Gesten, das Tempo weiter zu verlangsamen.
«Feuer einstellen!«schrie er.»Hört auf zu schießen!«
Die Männer blickten ihn verwirrt und ungläubig an, stellten aber einer nach dem anderen das Feuer ein, und nach einer letzten, nicht mehr besonders gut gezielten Salve hörte auch der Pfeilregen aus dem Busch aus. Das Boot verlor mehr und mehr an Fahrt und lag schließlich reglos auf der Stelle.
Indiana blickte weiter gebannt zum Waldrand hinüber. Er erkannte jetzt hier und da Bewegung: Ein Huschen da, ein Schemen dort, nichts, was man wirklich sehen konnte. Aber schließlich teilte sich die grüne Wand aus Blättern, und erst eine, dann zwei, drei und schließlich mehr als ein Dutzend kleinwüchsige, schlanke Gestalten mit bronzefarbener Haut traten aus dem Wald. Die meisten von ihnen waren nackt bis auf einen knappen Lendenschurz, und alle waren mit Blasrohren bewaffnet, die länger waren als sie selbst.
«Aymará«, sagte Reuben,»das sind Aymará. Ich erkenne den Federschmuck.«
Indiana sah ihn verwirrt an. Reuben hatte sich entweder sehr gut auf diese Expedition vorbereitet, oder er war nicht der unbedarfte kleine FBI-Beamte, der zu sein er vorgab.
Nach und nach traten immer mehr Indianer aus dem Wald heraus. Die meisten blickten das Schiff nur aufmerksam und reglos an, aber einige hielten ihre Blasrohre auch schußbereit weiter auf das Boot gerichtet, und ein paar wateten sogar in den Fluß hinaus, als wollten sie zu ihnen herüberschwimmen.
Reuben blickte die schweigende Armee — sie war mittlerweile auf gut fünfzig oder auch sechzig Männer angewachsen — sekundenlang mit unbewegtem Gesicht an, dann steckte er seine Pistole in den Gürtel zurück — und richtete sich auf.
«Was tun Sie da?«fragte Indiana erschrocken.»Sind Sie verrückt?«
Reuben achtete nicht auf ihn. Unendlich behutsam, die leeren Hände weit vor sich gestreckt, stand er ganz auf, verharrte einen Moment reglos und ging dann mit sehr langsamen Schritten zur Reling hinüber. Ein gutes Dutzend Blasrohre folgte seiner Bewegung, aber Reuben ging weiter und ignorierte auch Henleys heftiges Gestikulieren und die erschrockenen Rufe der Söldner.
Indiana beobachtete mit angehaltenem Atem und ungläubig aufgerissenen Augen, wie er ganz dicht an die Reling herantrat und beide Arme hob, die leeren Handflächen auf das Ufer gerichtet.
«Beidrehen!«befahl Reuben.»Zum Ufer!«
Der Mann hinter dem Ruder zögerte, bis Henley schließlich aufstand und ihm ebenfalls einen befehlenden Wink gab. Der Dieselmotor erwachte rumorend wieder zum Leben. Ein sanftes Zittern lief durch den stählernen Rumpf des Schiffes, als es fast widerwillig wieder Fahrt aufnahm und sich für einen Moment quer zur Strömung legte, um den Bug auf das Ufer auszurichten.
«Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, Reuben«, murmelte Indiana.
Er hatte sehr leise gesprochen, aber der FBI-Agent mußte seine Worte trotzdem verstanden haben, denn er nickte und antwortete, ohne den Blick von den stumm dastehenden Indianern am Ufer zu nehmen.»Ich hoffe es auch, Dr. Jones. «Er lachte humorlos.»Wenn nicht, bin ich der erste, der es merkt.«
Ganz langsam näherte sich das Schiff dem Ufer. Die Zahl der Indianer, die nach und nach aus dem Unterholz hervorgetreten waren, war noch weiter angewachsen, und zwischen den Kriegern entdeckte Indiana nun auch Kinder und Alte und sogar ein paar Frauen. Auch sie waren bewaffnet.
Der Anblick irritierte ihn. Die südamerikanischen Indianer — zumal Stämme, die noch existierten — waren nicht unbedingt sein Spezialgebiet, aber er wußte doch, daß das Volk der Ay-mará nicht besonders groß und außerdem für sein freundliches Wesen und seine Friedfertigkeit bekannt war. Indiana fragte sich vergeblich, was diese Menschen so gereizt haben mochte, daß sie das Schiff und seine Besatzung warnungslos angegriffen hatten.
Das Schiff bohrte sich knirschend in das Gewirr aus Luftwurzeln und überhängenden Ästen, das das Ufer bedeckte, und kam mit einem letzten, spürbaren Zittern zur Ruhe. Einige der Indianer wichen ein paar Schritte zurück, und Indiana konnte trotz der Entfernung und der schreiend bunten Farben, mit denen sich die meisten Eingeborenen die Gesichter bemalt hatten, ihre Unsicherheit und ihr Mißtrauen deutlich erkennen. Weitere Blasrohre richteten sich auf sie, und er spürte gleichzeitig, wie die Nervosität unter Reubens Söldnern zunahm. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß keiner von ihnen die Nerven verlor und einen Schuß abgab. Trotz ihrer überlegenen Bewaffnung hatten sie nicht die geringste Chance gegen diese Übermacht.
Aber der gefährliche Moment verging, ohne daß etwas geschah. Reuben blieb noch einige Augenblicke weiter reglos und mit erhobenen Händen an der Reling stehen, dann senkte er ganz langsam die Arme und rief ein einzelnes Wort in einem Dialekt, den Indiana noch nie gehört hatte. Im ersten Moment schien es, als würde gar keine Reaktion erfolgen, aber dann traten zwei, drei Aymará beiseite, um einem alten, grauhaarigen Mann in einem grün- und rotgemusterten Federmantel Platz zu machen. Er bewegte sich mit den mühsamen, schlurfenden Schritten eines wirklich alten Mannes, ging schwer auf einen mit reichen Schnitzereien verzierten Stock gestützt und trug den linken Arm in einer Schlinge aus geflochtenen Pflanzenfasern. Und jetzt, als hätte es dieses Anblicks bedurft, um seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, sah Indiana auch, daß zahlreiche Indianer verletzt waren — viele trugen Verbände aus Blättern oder grobem Stoff, manche Wunden waren gar nicht versorgt worden oder begannen gerade erst zu heilen, und einige schienen kaum in der Lage zu sein, sich auf den Beinen zu halten. Trotzdem waren sie hierhergekommen, um an dem Angriff auf das Boot teilzunehmen. Was um alles in der Welt war hier passiert, dachte Indiana entsetzt.
Die Tür neben ihm wurde geöffnet, und Marian machte einen halben Schritt auf das Deck hinaus, entdeckte die Indio-Armee und blieb mitten in der Bewegung stehen. Erschrocken riß sie die Augen auf und schlug die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken.
«Bleib, wo du bist!«sagte Indiana hastig. Und auch Reuben drehte sich um und warf Marian einen fast entsetzten, beschwörenden Blick zu.
Unter die Indios am Ufer war Unruhe gekommen. Noch mehr Waffen richteten sich auf das kleine Schiff und seine Besatzung, und für einen winzigen Moment spürte Indiana, daß die Spannung wieder einen gefährlichen Punkt erreichte. Aber das Wunder wiederholte sich — auch diesmal verging der Augenblick, ohne daß einer der Indios die Nerven verlor. Zögernd senkten sich die meisten Waffen wieder. Die meisten. Nicht alle.
Reuben drehte sich mit gemessenen Bewegungen wieder zum Ufer um und blickte dem alten Indio entgegen. Der Eingeborene — Indiana schloß aus seiner Kleidung und dem Respekt, den die anderen Aymará ihm entgegenbrachten, daß es ihr Häuptling oder der Medizinmann des Stammes sein mußte — trat so dicht an das Ufer heran, wie er konnte, und straffte die dürren Schultern. Trotz seiner ausgemergelten Gestalt und den grauen Schatten, die Fieber und Schmerz auf seinen Wangen hinterlassen hatten, wirkte er stolz und respektgebietend.