Indiana warf Marian einen beschwörenden Blick zu und erhob sich dann langsam hinter seiner Deckung. Vom Ufer aus folgten fünfzig oder auch hundert Augenpaare mißtrauisch seinen Bewegungen, als er Reubens Beispiel folgte und mit schon fast übertriebener Gestik, damit auch ja jeder einzelne Indio genau sah, was er tat, seine Waffe in den Halfter steckte und dann neben Reuben an die Reling trat. Der FBI-Agent nickte beinahe unmerklich, um sein Einverständnis kundzutun, löste den Blick jedoch nicht vom Gesicht des alten Indianers. Der Aymará seinerseits blickte abwechselnd Reuben und Indiana aus Augen an, deren Wachheit und Schärfe in krassem Gegensatz zu seinem faltenzerfurchten Gesicht standen. Schließlich sagte er etwas, das Indiana nicht verstand, Reuben jedoch erleichtert aufatmen ließ. Der angespannte Ausdruck auf dem Gesicht des FBI-Mannes blieb, aber Indiana konnte trotzdem spüren, daß eine unsichtbare Last von Reuben genommen war.
«Was sagt er?«fragte er.
Reuben deutete ein hastiges Kopfschütteln an und antwortete dem Indio in der gleichen Sprache. Indianas Respekt vor dem FBI-Mann stieg. Offensichtlich hatte sich Reuben wirklich sehr gründlich auf diese Expedition vorbereitet. Oder, flüsterte eine leise, aber hartnäckige Stimme hinter seiner Stirn, auch Henley hatte ihm längst nicht die ganze Wahrheit erzählt, und die beiden FBI-Beamten wußten sehr viel mehr, als sie bisher zugegeben hatten.
Reuben und der Indianer unterhielten sich eine Weile in einer fremdartigen, sonderbar kehlig klingenden Sprache, die Indiana noch nie zuvor gehört hatte, dann drehte sich Reuben um und machte eine Armbewegung, die das gesamte Deck einschloß.»Legt die Waffen fort«, sagte er.»Alle!«
Etwas, womit Indiana nicht gerechnet hatte, geschah ganz plötzlich: Nicht nur Henley, sondern auch die Männer, die Indiana bisher für gedungene Söldner gehalten hatte, gehorchten augenblicklich. Rasch und widerspruchslos legten sie ihre Gewehre auf den Boden, zogen auch Pistolen und Messer aus den Gürteln und standen auf. Erst als Reuben den Blick wandte und Indiana strafend und wortlos ansah, wurde dem klar, daß er plötzlich der einzige an Deck war, der noch eine Waffe trug. Beinahe hastig schnallte er den Gürtel mit dem Pistolenhalfter ab und legte ihn zu Boden, behielt die zusammengerollte Peitsche aber in der Hand. Reuben betrachtete sie eine halbe Sekunde lang mißbilligend, schien dann aber zu dem Schluß zu kommen, daß es der Mühe nicht wert war, etwas zu sagen.
«Was ist passiert?«flüsterte Indiana.»Wieso haben sie uns angegriffen?«
«Später«, antwortete Reuben leise.»Bitte sagen Sie jetzt nichts mehr, Dr. Jones. «Einen Moment lang blickte er die Indianer am Ufer und besonders den Alten noch unentschlossen an, dann gab er sich einen Ruck, schwang sich mit einer schnellen, aber nicht überraschenden Bewegung über die Reling und sprang ins Wasser hinab. Selbst hier, unmittelbar am Ufer, war es noch so tief, daß Reuben fast bis an die Brust versank. Er breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, balancierte das letzte Stück zum Ufer und kletterte, die Luftwurzeln und überhängenden Äste geschickt als Halt ausnutzend, zu den Indios hinauf. Obwohl er einigen dabei so nahe kam, daß er sie hätte berühren können, machte keiner von ihnen Anstalten, ihm zu helfen. Allerdings versuchten sie auch nicht, ihn anzugreifen.
Indiana hörte, wie Henley hinter ihm erschrocken die Luft einsog und etwas murmelte, das sich wie »völlig übergeschnappt« anhörte, und auch Marian und die Söldner traten nacheinander zögernd weiter an die Reling heran und sahen Reuben fassungslos zu.
Reuben sprach eine ganze Weile mit dem alten Indio. Obwohl die an Bord Zurückgebliebenen nicht verstehen konnten, worum es ging, sprachen die Stimmen und Gesten der beiden ungleichen Männer ihre eigene Sprache — offensichtlich war der alte Mann sehr erregt und sehr mißtrauisch, und Reuben schien mit Engelszungen zu reden, um ihn zu beruhigen. Einoder zweimal im Laufe des Gespräches war Indiana nicht mehr sicher, daß Reuben Erfolg haben würde, denn die Krieger scharten sich enger um ihren Anführer, und mehr als einer trat in eindeutig drohender Haltung auf den FBI-Mann zu. Aber schließlich machte der alte Mann eine gleichzeitig befehlend wie unendlich müde aussehende Geste, und der Ring aus Kriegern lockerte sich wieder. Reuben wandte sich um und bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund, damit seine Worte an Bord des Schiffes verstanden wurden:»Dr. Jones! Miss Corda! Kommen Sie an Land!«
Indiana tauschte einen überraschten Blick zuerst mit Marian, dann mit Henley, aber etwas in Reubens Stimme hatte ihm klargemacht, daß jetzt nicht die Zeit für Fragen oder gar Diskussionen war. Mit einer raschen Bewegung kletterte er über die Reling, hielt sich mit der linken Hand an dem rostigen Eisen fest und löste mit der anderen die Peitsche vom Gürtel. Mit einer einzigen, gekonnten Bewegung ließ er die Schnur zum Ufer hinüberzischen, wo sie sich wie ein Lasso um einen Ast wickelte. Dann machte er eine auffordernde Kopfbewegung in Marians Richtung.»Darf ich bitten?«
Marian blickte ihn völlig verblüfft an, und unter den Kriegern am Ufer entstand ein teils verwirrtes, teils aber auch drohend klingendes Murren.»Beeil dich«, sagte Indiana, noch immer lächelnd, aber in drängenderem Ton.»Bevor sie nervös werden.«
Marian gab sich einen sichtbaren Ruck, kletterte umständlich zu ihm auf die Außenseite der Reling hinaus und sah mit unverhohlener Furcht zu der drohend dastehenden IndianerArmee hinab. Indiana ließ ihr keine Zeit, es sich anders zu überlegen, sondern schlang den linken Arm fest um ihre Taille und stieß sich von der Reling ab. Die ledernde Peitschenschnur knarrte protestierend, aber sowohl sie als auch der Ast hielten dem doppelten Gewicht stand, während sich die beiden in einem eleganten Bogen zum Ufer hinabschwangen.
Die Indios beobachteten Indianas unkonventionelle Methode, von Bord des Schiffes zu gehen, verwirrt und teilweise mit Belustigung. Marian stieß einen kleinen, überraschten Laut aus und riß sich hastig von ihm los, kaum daß sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, während Reuben Indiana mit deutlicher Verärgerung anblickte.
«War das nötig?«fragte er, als Indiana und Marian zu ihm und dem alten Aymará traten.
«Nein«, antwortete Indiana lächelnd.»Aber ich hatte keine Lust, nasse Füße zu bekommen.«
«Ich glaube, Sie haben zu viele Tarzan-Romane gelesen, Dr. Jones«, murrte Reuben und machte eine befehlende Geste, als Indiana antworten wollte.»Genug jetzt. Wir begleiten sie.«
Es dauerte eine Sekunde, bis Indiana ihn verstand.»Die Indios?«fragte er zweifelnd.
Reuben nickte.»Ihr Dorf liegt zehn Minuten von hier entfernt. Sie haben mir versprochen, das Schiff nicht anzugreifen, solange wir bei ihnen sind. Ich glaube, der Häuptling glaubt mir, daß wir nicht zu Ramos’ Bande gehören.«
Indiana ließ seinen Blick zweifelnd über die finsteren IndioGesichter gleiten. Er fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut, und er machte keinen Hehl daraus.»Was ist passiert?«
«Genau weiß ich das auch nicht«, antwortete Reuben ehrlich.»Ich spreche ihre Sprache nicht sehr gut. Aber wenn ich den Häuptling richtig verstanden habe, dann sind sie vor drei Tagen von Männern überfallen worden, die auf einem Schiff wie dem unseren ankamen. Und die von einem verkrüppelten Mann angeführt wurden, der nicht sehen konnte.«
«Ramos.«
Reuben nickte düster.»Ja. Es hat eine Menge Tote und noch mehr Verletzte gegeben.«
«Und sie haben zuerst geglaubt, wir gehören zu ihm?«
Reuben zuckte abermals mit den Schultern.»Ich weiß auch jetzt noch nicht, was sie glauben, Dr. Jones. Was immer Ra-mos’ Männer getan haben, hat sie so in Wut versetzt, daß sie keinem weißen Mann mehr vertrauen. Vielleicht gelingt es uns, ihr Mißtrauen zu zerstreuen, wenn wir mit ihnen kommen. Oder ist Ihnen das zu gefährlich?«fügte er beinahe lauernd hinzu.