Die Geschichte, die Indiana hörte, war so erstaunlich wie furchtbar. Sie waren nicht das zweite, sondern das dritte Schiff mit weißen Männern, das während der letzten beiden Tage den Fluß herabgekommen und in das Gebiet der Aymará eingedrungen war. Stanleys Vorsprung war nicht so groß, wie sie bisher angenommen hatten, und sie waren auf dem richtigen Weg. Er war hier entlanggekommen, mit einem Schiff, das drei oder vier Meilen weiter nördlich in einer kleinen Bucht angelegt und ein Dutzend Männer und zwei geländegängige Lastwagen entladen hatte. Die Aymará hatten ihn und seine Begleiter freundlich begrüßt, wie es ihre Art war, aber dann war es wohl zum Streit gekommen; wie und worüber, das konnte oder wollte der Alte ihnen nicht sagen. Cordas Begleiter hatten einen der Krieger erschossen und die Tochter des Häuptlings als Geisel genommen, um ihren freien Abzug zu sichern. Offenbar hatten sie das Mädchen tatsächlich unverletzt wieder laufenlassen, als sie sich in sicherem Abstand zum Dorf befanden. Aber entsprechend mißtrauisch waren die Indios natürlich gewesen, als kaum einen Tag später ein zweites Schiff mit bewaffneten Männern den Fluß herabgefahren kam und an der gleichen Stelle anlegte. Und es war auch zwischen diesen Männern und den Aymará zu einer Auseinandersetzung gekommen; und auch den Grund dieses zweiten Streites verschwieg der Häuptling beharrlich. Aber es hatte einen Unterschied gegeben — während sich Cordas Begleiter darauf beschränkt hatten, sich zu verteidigen und ihren freien Abzug zu sichern, hatten Ra-mos’ Begleiter das Feuer aus Maschinenpistolen und Flammenwerfern auf die Indios eröffnet und fast ein Viertel der Krieger verletzt oder getötet. Danach hatten sie das Dorf gestürmt und niedergebrannt, und auch sie hatten wie Corda zuvor Geiseln genommen — den Medizinmann des Stammes und zwei jüngere Krieger. Diese drei waren bisher nicht zurückgekehrt, und der Stamm hatte eine Anzahl seiner besten Männer losgeschickt, um Ramos und seine Mörderbande zu verfolgen und den Medizinmann zu befreien.
Indiana schüttelte verwirrt den Kopf, als Reuben mit seinem Bericht zu Ende gekommen war.»Das klingt irgendwie nicht sehr überzeugend«, murmelte er.
«Ich weiß«, antwortete Reuben.»Aber er sagt die Wahrheit. Jedenfalls glaube ich das. Die Aymará sind ein friedliches Volk. Ich kann es ihnen wahrhaftig nicht verdenken, daß sie uns angegriffen haben.«
«Das meine ich nicht«, antwortete Indiana.»Aber ich habe das Gefühl, er verschweigt uns etwas. «Er machte eine weit ausholende Handbewegung, die den ganzen Raum einschloß.»Nicht einmal ein Ungeheuer wie Ramos tut so etwas völlig grundlos. Von Corda ganz zu schweigen. Fragen Sie ihn doch bitte, worum es bei dem Streit ging.«
«Das habe ich bereits getan«, sagte Reuben.»Er hat irgend etwas von Tabu und verbotenen Fragen gefaselt. «Er lächelte flüchtig und nicht sehr echt.»Außerdem scheint er mich prinzipiell immer dann nicht mehr verstehen zu können, wenn ich ihn darauf anspreche. Ich wollte auch nicht zu sehr darauf dringen. Sie glauben uns anscheinend, daß wir nichts mit Cor-da und Ramos zu tun haben, aber sie sind natürlich immer noch mißtrauisch und voller Angst, was ich für meinen Teil sehr gut verstehen kann.«
Indiana ersparte es sich, eine weitere Frage zu stellen. Neben allem anderen hatte er das sichere Gefühl, daß ihm Reuben auch dann nicht die Wahrheit sagen würde, wenn er sie wüßte. Einen Moment lang war er in Versuchung, ihm zu erzählen, was er von Henley erfahren hatte. Aber er wollte Reubens Kollegen keine Schwierigkeiten bereiten — und vielleicht erfuhr er sogar mehr, wenn er so tat, als wisse er noch immer nicht, warum sie wirklich hier waren.
So ging er statt dessen zu Marian hinüber und half ihr dabei, sich um die Verwundeten zu kümmern. Wenigstens versuchte er es.
Es gab nicht viel, was sie für sie tun konnten. Indiana verstand so viel oder wenig von Medizin und Heilkunde, wie ein Mann eben davon versteht, der die Hälfte seines Lebens in unwegsamen Regionen der Welt verbracht hat. Aber es ging hier nicht darum, einen gebrochenen Arm zu schienen oder eine Fleischwunde zu versorgen. Sowohl Marian als auch ihm war schon nach wenigen Minuten klar, daß die wenigsten Indios, die sie hier sahen, ihre Verletzungen überleben würden. Der Anblick der mehr als zwanzig Schwerverwundeten und der Gedanke an die fast ebenso vielen Toten, die sie draußen gesehen hatten, erfüllte ihn mit einer kalten Wut, die ihn beinahe selbst erschreckte. Ramos hatte mehr getan, als diese Menschen umzubringen. Der Stamm würde auch dies überstehen, aber Indiana war klar, daß er hinterher nicht mehr derselbe sein würde. Und auch Marians Gesicht hatte sich in eine Maske aus Entsetzen verwandelt, aus einer Furcht, in der ein tiefes, ungläubiges Erschrecken mitschwang, das jetzt noch so heftig war wie im allerersten Moment.
«Ich verstehe einfach nicht, warum er das getan hat«, flüsterte sie.
«Ich auch nicht«, sagte Indiana.»Aber ich werde ihn fragen, mein Wort darauf.«
Marian sah ihn aus großen, schreckgeweiteten Augen an.»Es ist Stans Schuld, nicht wahr?«flüsterte sie.
«Was für ein Unsinn«, sagte Indiana.
«Es ist seine Schuld«, beharrte Marian.»Das wäre nicht passiert, wenn … wenn er nicht hierhergekommen wäre oder wenn er diesem Verbrecher gegeben hätte, was der haben wollte. Ich … ich hätte dafür sorgen müssen, daß er es tut.«
«Unsinn!«widersprach Indiana noch einmal, und diesmal weitaus heftiger als das erste Mal.»Hör auf, Marian. Du hast damit genausowenig zu tun wie ich.«
Marian schüttelte den Kopf. Ihre Lippen bebten, und ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren.»Ich … ich hätte es vielleicht verhindern können«, murmelte sie.»Ich hätte mit ihm reden müssen. Vielleicht …«Sie brach ab. Ihr Blick begann zu flakkern. Für einen winzigen Moment glaubte Indiana, daß sie nun wirklich die Beherrschung verlieren würde. Aber dann beruhigte sie sich wieder.
«Natürlich. Du hast recht«, murmelte sie.»Entschuldige.«
«Das macht doch nichts«, sagte Indiana.
Marian lächelte traurig.»Ich fühle mich so hilflos«, sagte sie.»Wenn ich diesen Menschen doch nur helfen könnte.«
«Reubens Männer bringen Medikamente und Verbandszeug«, sagte Indiana.»Vielleicht können wir wenigstens ihre Schmerzen ein wenig lindem.«
«Das meine ich nicht«, antwortete Marian.»Das alles hätte nie passieren dürfen. Ich hätte Ramos aufhalten können.«
Indiana deutete mit einem gequälten Lächeln auf seinen Arm. Seit seinem Sprung von Bord des Schiffes schmerzte der wieder höllisch.»Du hast es versucht«, sagte er ironisch.»Ich bin ganz froh, daß es dir nicht gelungen ist. Sonst wäre ich jetzt vielleicht tot.«
Marian lächelte matt, aber ihre Augen blieben ernst, und Indiana sah Tränen darin schimmern. Und plötzlich fühlte er sich ebenso hilflos wie Marian, wenn auch aus einem ganz anderen Grund.
22. Juni 1944 Im Dorf der Aymará
Es dauerte bis spät in die Nacht, bis sie die am schlimmsten Verwundeten wenigstens notdürftig versorgt hatten. Es war tatsächlich so, wie Indiana befürchtet hatte — es gab nicht viel, was sie für diese Menschen tun konnten. Die Hälfte von denen, denen Indiana, Marian und Henley, der sich als überraschend geschickt in solchen Dingen erwies, frische Verbände anlegten, Salben oder zumindest schmerzstillende Mittel verabreicht hatten, würden in den nächsten Tagen mit Sicherheit sterben. Indiana fühlte sich hinterher hilfloser und niedergeschlagener als zuvor, und sein Zorn auf Ramos und die Männer, die ihn begleiteten, war zu etwas geworden, das beinahe an Haß grenzte und ihn selbst erschreckte. Und gleichzeitig fragte er sich immer mehr und mehr, warum sie das getan hatten. Er wußte, daß Ramos verrückt und völlig gewissenlos war; aber selbst ein Verrückter brauchte einen Grund, um so etwas zu tun, und sei es auch nur ein eingebildeter.