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Lange nach Mitternacht trat er erschöpft aus dem niedergebrannten Rundbau heraus, lehnte sich gegen die Wand neben der Tür und atmete die kühle, sauerstoffreiche Nachtluft ein. Sie roch noch immer nach Feuer und Asche, aber zumindest war der Geruch von Schmerzen und Tod hier draußen nicht so intensiv. Er sehnte sich nach einer Tasse starkem Kaffee oder wenigstens einem Whisky.

Aus müden, brennenden Augen sah er sich auf der Lichtung um. Der Mond war eine schmale, bleiche Sichel, die kein nennenswertes Licht spendete, aber die Indios hatten einige Feuer entzündet, und auch in den stehengebliebenen Hütten glomm Licht; offensichtlich schlief in dieser Nacht niemand in diesem Dorf.

Aber vielleicht hatte das auch einen anderen Grund, als er im ersten Moment annahm. Nach einer Weile fiel ihm auf, daß die meisten Feuer am entgegengesetzten Ende der Lichtung brannten. Schatten bewegten sich davor, hektisch und scheinbar sinnlos, trotzdem aber einem Rhythmus folgend, den er erst erkannte, als er die Musik hörte: leise, atonale Musik, das dumpfe Hämmern einer Trommel, die klagenden Töne einer Flöte und das an- und abschwellende Summen aus zahlreichen Kehlen, das ein anderes Lied intonierte als die Instrumente.

Indiana zögerte. Er war müde. Er war erschöpft wie selten zuvor in seinem Leben, und er war sich darüber im klaren, daß er von mehr als einem Augenpaar mißtrauisch beobachtet wurde, obwohl er im Moment keinen Indio in seiner Nähe sah. Trotzdem weckte das Geschehen dort drüben am Waldrand seine Neugier. Und es war mehr als der Wissenschaftler in ihm, der wissen wollte, was dort vorging. Irgend etwas sagte ihm, daß es wichtig sei.

Er sah sich um, stellte abermals fest, daß er allein zu sein schien, und spürte abermals, daß er es nicht war. Nachdem die Aymará ihr Mißtrauen überwunden hatten, hatten sie sich als das freundliche und hilfsbereite Volk erwiesen, das zu sein man ihnen nachsagte. Der Häuptling hatte keine Einwände erhoben, als Reuben ihn darum bat, alle seine Männer und ihre gesamte Ausrüstung von Bord des Schiffes ins Dorf bringen zu dürfen. Trotzdem war Indiana nicht entgangen, daß sich stets zwei oder drei Krieger unauffällig in der Nähe jedes einzelnen weißen Mannes aufhielten; ebensowenig wie ihm entgangen war, daß diese Krieger stets bewaffnet und jederzeit bereit waren, diese Waffen auch zu benutzen. Es war nicht so, daß er dieses Verhalten nicht verstand oder auch nur mißbilligte. Aber es war kein besonders angenehmes Gefühl, in jeder Sekunde das vergiftete Ende eines Pfeiles auf seinen Rücken gerichtet zu wissen.

Er verscheuchte den Gedanken und ging quer über die Lichtung auf den Feuerschein und die tanzenden Schatten zu. Das Hämmern der Trommeln wurde lauter, und aus den auf und ab hüpfenden Schemen wurden die Gestalten von fünfzehn oder zwanzig Aymará-Kriegern, die, mit bunten Erdfarben bemalt und jeweils einen prachtvollen Kopf- und Hüftschmuck aus Vogelfedern tragend, zum Takt der Musik um drei gleichmäßig angeordnete Feuer tanzten. Die Flammen schlugen sehr hoch, brannten aber trotzdem nicht besonders hell, und sie konnten auch keine sehr große Hitze ausstrahlen, denn in der Mitte des gleichschenkligen Dreiecks, das die Feuer bildeten, stand der alte Häuptling des Stammes. Auch seine Lippen bewegten sich zur Musik der Trommeln und Flöten, aber er stand völlig reglos da, die Arme ausgebreitet und das Gesicht zu den Sternen gewendet.

Als er sich dem Feuer bis auf zehn Schritte genähert hatte, trat eine Gestalt aus der Dunkelheit hervor und hob den Arm. Indiana blieb stehen und erkannte Reuben. Er wollte etwas sagen, aber der FBI-Mann schüttelte hastig den Kopf, bedeutete ihm mit einer Bewegung zu schweigen und entfernte sich wieder ein paar Schritte vom Feuer und den tanzenden Indianern. Indiana folgte ihm.

«Was tun sie da?«fragte Indiana mit einer Geste auf die Aymará.

Reuben zuckte mit den Schultern.»Ich hatte gerade gehofft, daß Sie mir diese Frage beantworten können«, sagte er.

Indiana blickte noch einmal und aufmerksamer zum Feuer hinüber. Die Indios bewegten sich hektisch, mit zuckenden, abgehackten Schritten, die Arme wild und nur scheinbar willkürlich in alle Richtungen schleudernd und manchmal kleine, spitze Schreie ausstoßend, die sich mit dem unheimlichen Klang der Musik zu etwas noch Düstererem, fast Furchteinflößendem vermischten.

«Es scheint so eine Art Gebet zu sein«, murmelte Reuben. Indiana konnte seinen Blick spüren, obwohl er ihn nicht ansah.»Vielleicht flehen sie ihre Götter um Hilfe an.«

«Nein«, murmelte Indiana.»Das ist … etwas anderes. «Er hatte viele Indianer-Tänze gesehen, bekannte und unbekannte, verbotene und solche, die zu keinem anderen Zweck als für die Augen neugieriger weißer Forscher bestimmt waren — aber so etwas noch nicht. Musik und Gesang der Indios, obgleich scheinbar unabhängig voneinander, ja verschiedenen unhörbaren Melodien folgend, vereinigten sich zu etwas schwer in Worte zu Fassendem, Bedrohlichem, Aggressivem. Trotzdem spürte er gleichzeitig, daß es kein Kriegstanz war.»Ich weiß es nicht«, sagte er noch einmal.»Aber ich glaube, es ist besser, wenn wir sie dabei nicht stören.«

Reuben sah ihn unsicher an, aber ein weiterer Blick auf die tanzenden Indianer schien auch ihn davon zu überzeugen, daß Indiana recht hatte. Vielleicht war es auch der Anblick des Häuptlings, der sie beide so verunsicherte — die reglos und hoch aufgerichtet zwischen den Flammen stehende Gestalt hatte etwas Unheimliches.

Sie gingen zurück, und Reuben führte Indiana zu einer der wenigen stehengebliebenen Hütten. Die Aymará hatten sie für Reubens Männer und ihre Ausrüstung geräumt. Reubens Begleiter hatten ihre Lager im hinteren Teil des Gebäudes aufgeschlagen, während das vordere Drittel sich in eine Art improvisiertes Warendepot verwandelt hatte: Offensichtlich war das Schiff bis unter die Luken mit Fracht beladen gewesen. Indiana musterte den Stapel aus Kisten und eng verschnürten Ballen einen Moment lang und suchte vergeblich nach irgendeiner Aufschrift oder einem Anhaltspunkt für das, was er enthalten mochte. Aber zu seiner Überraschung entdeckte er etwas anderes: Außer Reubens Söldnern waren auch die beiden Polizeibeamten ins Dorf gekommen. Einer von ihnen hatte sich zum Schlafen ausgestreckt und schnarchte, was das Zeug hielt. Der andere saß an einem tragbaren Funkgerät, das auf einem kleinen Klapptisch aufgestellt worden war, betätigte die Morsetaste und lauschte ab und zu auf die Antwort, die aus seinen Kopfhörern drang.

Indiana tauschte einen Blick mit Reuben.»Was tut er da?«

«Wir bekommen Hilfe aus La Paz«, antwortete Reuben.»In einer Stunde sind zwei Wasserflugzeuge mit Medikamenten und einem Arzt hier.«

Indiana schwieg dazu. Natürlich war Reubens Entscheidung richtig. Es gab nicht sehr viele Aymará in diesem Dorf, die völlig ohne Verwundung davongekommen waren. Und sie hatten weder die Mittel noch das Wissen, diesen Menschen die notwendige medizinische Hilfe angedeihen zu lassen. Und trotzdem gefiel ihm der Gedanke nicht. Irgendwie spürte er, daß Reuben mehr angefordert hatte als ärztliche Hilfe. Aber er sagte nichts dazu, sondern steuerte den Tisch an und setzte sich auf einen der Klappstühle, die davorstanden. Reuben setzte sich zu ihm.

«Haben Sie Hunger?«fragte er.

Indiana zog eine Grimasse. Nach dem, was er in den letzten Stunden in dem Rundbau in der Mitte des Dorfes gesehen hatte, hatte er das Gefühl, nie wieder etwas essen zu können, aber sein Magen knurrte, und so nickte er. Reuben stand auf und kam nach einigen Augenblicken mit einem Stück Brot und zwei Dosen Ölsardinen zurück, die er ungeschickt mit einem Klappmesser zu öffnen versuchte. Indiana sah ihm einen Moment lang dabei zu und nahm ihm diese Arbeit dann ab, ehe Reuben sich selbst ein Auge ausstechen oder einen Finger abschneiden konnte.

«Ich möchte wissen, was sie dort tun«, murmelte Reuben, während Indiana lustlos in der Fischdose herumzustochern begann.»Es ist irgendwie …«

«Unheimlich?«half Indiana aus, als Reuben nicht weitersprach.