Die Offenheit dieser Antwort überraschte Indiana. Nachdem der Aymará den ganzen Tag über beharrlich geschwiegen hatte, machte er sich jetzt nicht einmal mehr die Mühe zu leugnen. Dann begriff Indiana, daß dieses Eingeständnis nichts anderes als ein Zeichen des Vertrauens war, das der Alte ihnen trotz allem entgegenbrachte.»Ich weiß das«, sagte er.»Und ich bitte dich, mir zu glauben, daß ich so denke wie du. Niemand hat das Recht, sich in die heiligen Geheimnisse anderer Völker einzumischen.«
«Warum seid ihr dann hier?«
«Weil nicht alle so denken wie wir«, erwiderte Indiana.»Die Männer, die hier waren, und die, die ihnen folgten und euch das hier angetan haben, sind schlechte Menschen. Verbrecher und Mörder. Sie werden nicht ruhen, bis sie gefunden haben, wonach sie suchen. Willst du wirklich, daß dein Volk noch mehr Leid ertragen muß?«
Der Alte lächelte.»Und du glaubst, das würde nicht geschehen, wenn ich euch verrate, was ich ihnen nicht gesagt habe?«
«Vielleicht«, antwortete Indiana.
«Warum?«
Indiana deutete auf die beiden FBI-Beamten, dann auf sich selbst.»Weil wir vielleicht die Möglichkeit haben, sie aufzuhalten. Und weil es nicht Gold und Ruhm ist, was wir suchen, sondern Gerechtigkeit.«
«Gerechtigkeit …«Wieder lächelte der Alte, und diesmal war es ein fast melancholisches Lächeln.»Aus deinem Mund klingt das Wort anders als aus dem deiner Begleiter. Ich glaube dir. Ich glaube, du bist ein Mann, dem man vertrauen kann. Aber wir haben geschworen, das Geheimnis zu wahren.«
Reuben trat mit einem Schritt neben Indiana. Er wollte auffahren, aber Indiana legte ihm rasch die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf.»Lassen Sie ihn«, sagte er.»Es hat keinen Sinn. Er wird nicht antworten.«
Reubens Augen verschossen kleine zornige Blitze in seine Richtung, aber er sagte nichts von alledem, was ihm sichtlich auf der Zunge lag, sondern preßte die Lippen zu einem schmalen, ärgerlichen Strich zusammen und drehte sich dann mit einem Ruck herum.»Ich danke dir, Häuptling«, sagte er, wieder an den Aymará gewandt.»Und ich verspreche dir trotz allem, daß wir die Männer, die das hier getan haben, finden und bestrafen werden.«
«Sie müssen völlig verrückt geworden sein, Jones«, sagte Reuben zornig, als der Alte und seine Begleiter gegangen waren und Indiana sich wieder zu ihm herumdrehte.»Wie, glauben Sie, sollen wir Ramos denn finden? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie groß diese Wälder sind? Der Alte war unsere einzige Chance. Sie hätten ihn mit etwas mehr Nachdruck fragen sollen.«
«So wie Ramos?«
Reubens Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch einmal um mehrere Grade, und Indiana spürte den drohenden Wutausbruch und fuhr hastig fort:»Außerdem gibt es vielleicht noch eine andere Möglichkeit.«
«Und welche?«
Indiana zögerte einen spürbaren Moment. Sie waren allein. Die Indios waren so rasch gegangen wie sie aufgetaucht waren, und seine Augen hatten sich an das schwache Licht hier draußen gewöhnt; er war sicher, daß niemand in der Nähe war. Und trotzdem hatte er das intensive Gefühl, beobachtet zu werden. Unwillkürlich senkte er die Stimme, als er antwortete.»Vorhin, als wir die Indios beobachtet haben«, sagte er.»Ist Ihnen nichts aufgefallen?«
Reuben schüttelte den Kopf.
«Aber mir«, fuhr Indiana fort.»Ich glaube, ich weiß, in welcher Richtung wir suchen müssen.«
Reuben blickte ihn aufmerksam an. Aber Indiana sagte nichts mehr, sondern lächelte nur flüchtig und wandte sich dann wieder zu Marian um, um zusammen mit ihr zur Hütte zurückzugehen.
Es war einer jener Gedanken, die einfach da sind; man fühlt ihre Nähe, man spürt, daß da etwas ist, das sich nur noch nicht greifen läßt. Es war kein Zufall gewesen, daß er nicht weitergesprochen, sondern Reuben mit verdutztem Gesicht und wachsendem Ärger stehengelassen hatte. Ihm war etwas aufgefallen, vorhin, beim Anblick der tanzenden Indianer und vor allem an ihrem Häuptling, aber er konnte noch nicht genau sagen, was es war. Trotzdem war er sehr sicher, eine Spur gefunden zu haben, und er verschwendete nicht einmal Zeit darauf, sich den Kopf zu zermartern, was seine Beobachtungen bedeuteten und was sein Unterbewußtsein ihm sagen wollte. Er kannte dieses Gefühl. Es war ihm schon so oft begegnet, daß er wußte, er würde im richtigen Moment auch sagen können, was es bedeutete.
Für die nächsten zwei Stunden jedenfalls war dieser richtige Moment noch nicht gekommen. Sie waren in die Hütte zurückgegangen, in der sich Reubens provisorisches Hauptquartier befand, und Indianas Vermutung erwies sich als richtig — solange sie sich in der Nähe der Söldner, und außerdem vor allem der beiden bolivianischen Polizeibeamten, aufhielten, versuchte der FBI-Beamte nicht mehr, weiter in ihn zu dringen, sondern durchbohrte ihn nur mit zornigen Blicken. Indiana quittierte sie stets auf die gleiche Weise, mit einem freundlichen Lächeln, und nutzte die verbliebene Zeit bis zur Ankunft des Flugzeuges, ein wenig von dem Schlaf nachzuholen, den er seinem Körper schon zu lange vorenthalten hatte.
Die beiden Maschinen kamen nicht nach einer, wie Reuben vermutet hatte, sondern nach mehr als zwei Stunden. Und es war die Aufregung, die beim Geräusch der Motoren unter den Aymará entstand, die Indiana wieder weckte. Erschrocken setzte er sich auf, im ersten Moment felsenfest davon überzeugt, daß Ramos und seine Killertruppe zurückgekommen waren, um zu Ende zu bringen, was sie vor drei Tagen begonnen hatten, doch dann hörte er das tiefe Brummen der Flugzeugmotoren über dem Fluß und somit eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt, aber in der stillen, klaren Nachtluft so deutlich zu hören, als kreisten die Maschinen über dem Dorf. Schlaftrunken erinnerte er sich daran, weshalb der Polizist sein Funkgerät bedient hatte.
Noch immer ein wenig benommen, setzte er sich ganz auf und drehte sich zur Seite, um Marian zu wecken, die sich neben ihn auf eines der provisorischen Lager gelegt hatte.
Sie war nicht da.
Indiana blinzelte, rieb sich mit den Fingerknöcheln den Schlaf aus den Augen und sah sich noch einmal und diesmal sehr viel aufmerksamer in der Hütte um. Mit Ausnahme eines einzelnen, schnarchenden Söldners war er allein. Offenbar hatten alle anderen die Flugzeuge vor ihm gehört und die Hütte bereits verlassen. Auch er stand auf, trat aus dem Haus und registrierte mit einer Mischung aus Resignation und Verärgerung, daß noch immer tiefste Nacht herrschte. Es war dunkler geworden, bis auf zwei waren sämtliche Feuer gelöscht, aber der ganze Stamm schien auf den Beinen zu sein, und in einiger Entfernung erkannte er Reuben und Henley, die heftig gestikulierend auf den Häuptling einredeten und ihm offensichtlich zu erklären versuchten, was der Lärm zu bedeuten hatte. Automatisch hielt er auch nach Marian Ausschau, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Aber nach den schlechten Erfahrungen, die sie vorhin gemacht hatte, nahm er doch an, daß sie jetzt vorsichtiger war.
Als Indiana die kleine Gruppe erreicht hatte, drehte sich der Häuptling gerade um und schritt stolz erhobenen Hauptes davon. Reuben blickte ihm finster nach, antwortete aber nicht, als Indiana eine entsprechende Frage stellte, sondern machte eine rüde Kopfbewegung in die Richtung, in der der Fluß lag.»Die Flugzeuge sind da«, sagte er überflüssigerweise.»Wir sollten ihnen entgegengehen. Sie können sicher Hilfe beim Ausladen gebrauchen.«
Indiana sah ihn fragend an, und Reuben reagierte darauf mit einem fast beschwörenden Blick. Indiana verstand. Außer Hen-ley und drei oder vier von Reubens Söldnern befand sich auch einer der Polizeibeamten in Hörweite. Offensichtlich hatte aber Reuben seinen — Indianas Meinung nach völlig verrückten — Plan, sich eines der Flugzeuge zu bemächtigen, immer noch nicht aufgegeben. Indiana fragte sich nur, wohin sie dann aber fliegen wollten.