Er fand gerade noch Zeit, jeden Muskel im Leib anzuspannen, dann lief das Schiff mit einem fürchterlichen Schlag auf. Der Rumpf dröhnte wie eine übergroße Glocke, irgend etwas zerbrach mit einem furchtbaren Geräusch, und dann gab es einen zweiten, noch härteren Ruck, in den sich der schreckliche Laut von Metall mischte, das gegen einen noch härteren Widerstand gepreßt wurde.
Und mit einem Male hörte der Boden auf zu zittern.
Das Brüllen des Wassers und die eiskalte Gischt, die durch das zerborstene Fenster hereinströmte, dauerten an, aber das Schiff lag von einer Sekunde auf die andere still.
Indiana war durch den Aufprall von den Füßen gerissen worden und richtete sich nun mühsam und benommen wieder auf. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, daß sich das Boot zwischen den beiden Felsen festgekeilt haben mußte. Unsicher — zu jeder Zeit auf einen neuen, furchtbaren Schlag gefaßt — stand er ganz auf und watete wieder zum Ruder.
Die Steuerkabine bot einen furchtbaren Anblick. Alles, was nicht angeschraubt oder geschweißt war, war losgerissen und zertrümmert worden. Das Wasser stand bereits knöcheltief, und mit Ausnahme der Frontscheibe waren auch alle anderen Fenster zerbrochen. Die Tür hing schräg und halb aus den Angeln gerissen im Rahmen, und das Heck des Bootes war in einer Wolke aus brodelnder Gischt verschwunden. Er spürte jetzt, daß der Boden nicht ganz so ruhig war, wie es ihm im ersten Moment vorgekommen war. Er zitterte und vibrierte ganz sacht. Vielleicht, dachte er voller Schrecken, würde sich das Schiff doch wieder losreißen. Und er konnte kaum damit rechnen, ein zweites Mal ein solches Glück zu haben.
Mit zusammengebissenen Zähnen und wie ein Mann, der sich schräg gegen einen Sturm stemmt, verließ er vornübergebeugt das verwüstete Steuerhaus und kämpfte sich zum Heck. Er brauchte fast fünf Minuten, um das knappe Dutzend Schritte zurückzulegen — immer wieder glitt er aus und rutschte den Weg zurück, den er sich mühsam nach hinten gekämpft hatte. Immer wieder trafen ihn eiskalte Brecher und drohten, ihn über Bord zu spülen, und das Zittern der eisernen Planken unter seinen Füßen nahm ganz allmählich, aber spürbar zu.
Als Indiana die Tür des Achteraufbaus erreicht hatte, war er mit seinen Kräften fast am Ende. Auf Händen und Knien kroch er die eiserne Treppe zum Laderaum hinunter und suchte blind im Dunkel umher, bis er die Tür fand. Seine Finger tasteten über rostiges, nasses Metall, zerrten am Riegel — und ertasteten ein gewaltiges Vorhängeschloß.
Indiana fluchte. Einen Moment lang zerrte er vergeblich an dem Schloß, dann begann er mit beiden Fäusten gegen die Tür zu hämmern. Sekundenlang geschah gar nichts, dann antwortete eine Folge dumpfer Schläge, und Reubens Stimme drang verzerrt durch das Metall.»Jones? Sind Sie das?«
«Die Tür ist verriegelt!«schrie Indiana zurück.
«Machen Sie auf!«brüllte Reuben.»Wir ertrinken. Hier dringt Wasser ein!«
«Die Tür ist zu!«schrie Indiana verzweifelt.»Sie haben ein Schloß angebracht!«
Hinter der Tür erklangen jetzt andere Stimmen voller Panik. Jemand begann gegen die Wand zu hämmern, und für Augenblicke verstand Indiana überhaupt nichts mehr. Dann sorgte Reuben mit erhobener Stimme halbwegs für Ruhe.»Eine Brechstange!«schrie er.»Irgendwo dort draußen muß eine Brechstange liegen! Suchen Sie sie! Und beeilen Sie sich!«
Indiana drehte sich auf den Knien herum und begann blind um sich zu tasten. Seine Hände patschten durch eiskaltes Wasser, fuhren über den Boden und die Wände und glitten über das eiserne Treppengeländer. Einen Moment lang zerrte er vergeblich daran, ehe er weitersuchte.
In Wahrheit dauerte es wahrscheinlich nur Sekunden, bis er die Brechstange fand, von der Reuben geredet hatte, aber ihm kam es vor wie eine Ewigkeit. Das Wasser schlug weiter mit fürchterlicher Gewalt gegen den Schiffsrumpf, und aus dem sanften Zittern war mittlerweile ein deutlich spürbares Vibrieren geworden, in das sich immer mehr und immer heftigere Schläge mischten. Manchmal drang ein mahlender, knirschender Laut aus den Wänden des Schiffes, und er glaubte zu spüren, wie das Metall rings um sie herum zerbrach. Als er die Brechstange schließlich fand und sich aufzurichten versuchte, hatte sich das Schiff so weit zur Seite geneigt, daß es ihm erst beim zweiten Anlauf gelang, und auch das nur, indem er das linke Bein ausstreckte und in einem absurden Spagat zwischen dem Boden und einer der Seitenwände abstützte.
«Beeilen Sie sich!«schrie Reuben.»Um Gottes willen!«
Indiana tastete mit der linken Hand nach dem Vorhängeschloß, setzte das Brecheisen an und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. In den ersten Sekunden hielt das Metall seinen Bemühungen stand, und er begann bereits zu fürchten, daß seine Kraft einfach nicht mehr reichen würde. Dann gab der Bügel mit einem knirschenden Laut nach und zerbrach. Indiana schleuderte das Brecheisen von sich, zerrte mit fliegenden Fingern das Schloß herunter und riß den Riegel zurück.
Im selben Augenblick wurde die Tür von innen aufgestoßen, als Reuben, Henley und zwei der anderen gleichzeitig versuchten, den Laderaum zu verlassen.
Und im selben Augenblick traf ein unvorstellbarer Schlag das Schiff. Indiana wurde von den Füßen gerissen, segelte hilflos durch die Luft und stürzte gegen Reuben und die anderen, die unter seinem Anprall in den Laderaum zurücktaumelten. Neben- und übereinander stürzten sie zu Boden, während sich das Schiff weiter und weiter aufbäumte und, von der unvorstellbaren Gewalt des Wassers geschoben, zwischen den Felsen hervorglitt, zwischen denen es eingekeilt gewesen war.
Das letzte, was Indiana für die nächsten Minuten wahrnahm, war einer von Reubens Männern, der wie ein lebendes Geschoß quer durch den Lagerraum und direkt auf ihn zugeflogen kam.
Dann sah er nichts mehr.
Und auch nach seinem Erwachen sah er nichts. Er lag in halb aufgerichteter Position in eiskaltem Wasser, umgeben von einer Finsternis, in der man nur Schemen wahrnehmen konnte, ohne zu erkennen, wer sie waren, und er hörte die Geräusche zahlreicher Menschen, Stimmen, ein Stöhnen, dicht neben sich die raschen hektischen Atemzüge eines Menschen, der große Schmerzen litt oder einer Panik nahe war. Dann Reubens Stimme, die halblaut mit jemandem sprach, ohne daß er die Worte verstehen konnte, die aber einen sonderbaren Hall hatten. Dann glomm eine flackernde Streichholzflamme in der Schwärze auf und erlosch sofort wieder.
Reuben fluchte, Indiana hörte es rascheln und knistern, und ein zweites Streichholz wurde angerissen, flackerte, brannte diesmal einen kleinen Moment länger und erlosch wieder.
Reuben fluchte erneut und lauter.
Indiana bewegte vorsichtig die Hände, die sich unter Wasser befanden, und stellte fest, daß es ging. Das eiskalte Wasser saugte fast jedes Gefühl aus seinen Gliedern, aber er konnte sich bewegen — offensichtlich hatte er sich weder einen Knochenbruch noch eine andere größere Verletzung zugezogen.
Zum dritten Mal wurde ein Streichholz angerissen, und diesmal erlosch die Flamme nicht, sondern wuchs im Gegenteil nach einigen Augenblicken zum ruhig brennenden gelben Licht einer Petroleumlampe heran.»Paßt auf mit dem Ding«, hörte er Reubens Stimme.»Es ist die einzige. Alle anderen sind verschwunden.«
Indiana blinzelte in die ungewohnte Helligkeit. Im ersten Moment konnte er nur Schatten und formlose Umrisse erkennen, denn das Licht brach sich in verwirrender Vielfalt auf der Wasseroberfläche. Aber dann gewöhnten sich seine Augen daran, und er sah, daß sie sich noch immer im Laderaum des kleinen Dampfschiffes befanden. Allerdings hatte der sich auf erstaunliche Weise verändert.