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Indiana antwortete nicht — was hätte er denn auch sagen können? Reuben hatte recht. Schweigend und zutiefst verwirrt sahen sie zu, wie die Horrorgestalt den halb bewußtlosen Mann ans Ufer brachte und neben Reuben ablegte. Der Mann stöhnte. Er keuchte, begann plötzlich zu würgen und erbrach sich. Die Kreatur drehte ihn hastig herum, grub die Hand in sein Haar und schüttelte seinen Kopf so lange, bis er wieder frei atmen konnte. Dann legte sie ihn fast behutsam wieder zu Boden, bedeutete Indiana und Reuben mit einer Geste, sich um den Mann zu kümmern, und watete wieder ins Wasser zurück.

Und so ging es weiter. Es waren fünf oder sechs der grausig entstellten Gestalten, die nacheinander die Männer aus dem Laderaum des Schiffes holten. Die meisten waren bewußtlos oder zumindest nicht in der Verfassung, sich zu wehren. Einzig Henley, der als letzter aus dem Schiff herausgebracht wurde, tobte wie ein Wahnsinniger. Es bedurfte zwei der monströsen Geschöpfe, um ihn ans Ufer zu bringen und zwischen den anderen abzulegen. Die hastig verbundene Wunde an seinem Oberschenkel brach dabei wieder auf und begann heftig zu bluten, aber das schien er nicht einmal zu spüren.

Während sich Reuben um seinen verletzten Kollegen kümmerte, betrachtete Indiana ihre unheimlichen Retter etwas aufmerksamer. Das helle Tageslicht ließ sie wieder ein wenig menschlicher aussehen als unten im Schiff. Die vermeintlichen Schuppen entpuppten sich als ledrige Haut, die von Geschwüren und Warzen und bei einigen von weißlichem Geflecht wie von Pilz bedeckt war. Und natürlich waren es keine Ungeheuer. Es waren Menschen; aber Menschen, die auf entsetzliche Weise entstellt waren. Die meisten hinkten, hatten einen Buk-kel, ungleich lange Arme, verkrüppelte Hände, entstellte Gesichter und andere schreckliche Mißbildungen. Bei einem glaubte Indiana tatsächlich so etwas wie Kiemen zu erkennen, aus dem Handgelenk eines anderen wuchs ein faustgroßer Fleischklumpen, als hätte sich dort eine dritte Hand bilden wollen, es aber nicht ganz geschafft.

«Was um Gottes willen ist das?«flüsterte Reuben entsetzt.»Das … das sind doch keine Menschen, oder?«Das letzte Wort hatte er mit schriller, beinahe hysterischer Stimme hervorgestoßen. Es klang wie ein Schrei.

«Ich fürchte doch«, antwortete Indiana leise.

«Aber das ist unmöglich«, flüsterte Reuben.»So … so etwas habe ich noch nie gesehen. Was sind das für Männer?«

Indiana antwortete nicht. Aber nicht deshalb, weil er die Antwort nicht gewußt hätte. Ganz im Gegenteil — er hatte plötzlich das furchtbare Gefühl, daß sie dem Geheimnis, das Corda und Ramos und sie und vor ihnen schon so viele hierhergebracht hatte, jetzt sehr nahe waren. Und er war nicht mehr so sicher, ob er es wirklich ergründen wollte.

24. oder 25. Juni 1944

Irgendwo im Regenwald

Die Höhle war groß, feucht und kalt und von einem Dutzend blakender Fackeln erhellt, die rotes Licht und Schatten an die Wände warfen und die Winkel mit einer Bewegung füllten, die nicht wirklich war.

Indiana wußte nicht, wie lange sie gebraucht hatten, um diesen Unterschlupf zu erreichen — keiner von ihnen wußte das. Keiner von ihnen wußte, wo sie überhaupt waren. Indiana konnte nicht einmal mehr sagen, ob sie einen oder zwei oder vielleicht sogar drei Tage unterwegs gewesen waren. Ihre unheimlichen Retter hatten ihnen Zeit genug gelassen, sich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen, aber diese kurze Rast war auch die letzte gewesen, die sie ihnen gönnten.

Sie waren nahezu ununterbrochen marschiert. Zuerst nach Osten, in nahezu rechtem Winkel vom Fluß fort und tiefer in den Dschungel hinein, später wieder in nördliche Richtung. Die Zahl ihrer Bewacher war auf gut zwei Dutzend angewachsen. Nicht alle von ihnen waren so monströs wie die, die Indiana und die anderen Männer gerettet hatten, und doch war nicht einer unter ihnen, der nicht eine oder mehrere mehr oder minder schlimme Mißbildungen hatte. Obwohl keiner von ihnen des Englischen oder einer anderen, Indiana oder den anderen geläufigen Sprache mächtig war, waren ihre Gesten und die stumme Präsenz ihrer Waffen — und vor allem ihr Aussehen — Warnung genug gewesen, daß keiner der Männer es gewagt hatte, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Davon abgesehen hatten sie alle spätestens während der ersten Nacht hoffnungslos die Orientierung verloren. Der Dschungel war so dicht geworden, daß sie die meiste Zeit über nicht einmal den Sternenhimmel sehen konnten, und als der nächste Tag heraufdämmerte, stieg mit der Sonne auch ein dichter, wattiger Nebel über den Horizont, so daß Indiana schließlich nicht einmal mehr wußte, in welche Himmelsrichtung sie marschierten.

Was danach kam, war in Indianas Erinnerung zu einem Durcheinander graugrüner, monotoner Bilder geworden, in denen nur eines immer gleich blieb: einen Fuß vor den anderen zu setzen und weiterzumarschieren. Ihre Bewacher gaben ihnen zu essen und zu trinken, aber sie redeten nicht, und sie gestatteten ihnen nicht die winzigste Pause. Als Henley schließlich zusammenbrach und einfach nicht mehr weiterkonnte, bauten zwei der Monster-Indios eine Trage aus Ästen und Pflanzenfasern, ohne daß sie eine Pause einlegten.

Immerhin glaubte Indiana sich zu erinnern, daß das Gelände allmählich unwegsamer wurde. Der Boden stieg sanft, aber beharrlich an, und immer mehr Steine und später große, scharfkantige Felsblöcke erschienen zwischen den Urwaldriesen.

Und schließlich hatten sie diese Höhle erreicht; ein jäh aufklaffendes Loch im Boden, das so perfekt getarnt war, daß Indiana es nicht einmal gesehen hatte, als ihre Bewacher sie direkt darauf zuführten. Wie alle anderen war er dort praktisch zusammengebrochen und auf der Stelle eingeschlafen, wo man ihn hingeführt hatte, und wie alle anderen fand er nach seinem Erwachen eine Schale mit frischem Wasser und ein wenig Obst sowie eine Portion eines undefinierbar aussehenden, aber köstlich schmeckenden Breies neben sich. Er hatte gegessen, getrunken und wieder geschlafen; wahrscheinlich einen ganzen Tag oder länger. Als er das nächste Mal erwachte, waren die heruntergebrannten Fackeln an den Wänden durch neue ersetzt worden, und mit Ausnahme von Henley, der fiebernd dalag und fantasierte, waren auch alle anderen wach.

Seither waren Stunden vergangen. Stunden, die sie zum Teil mit Reden und dem Aufstellen und Verwerfen der wildesten Theorien über ihre unheimlichen Lebensretter, die meiste Zeit aber stumm und dumpf vor sich hinbrütend zugebracht hatten. Gegen Reubens Rat hatte Indiana einmal versucht, ihr steinernes Gefängnis zu verlassen. Er war nicht sehr weit gekommen. Vor dem Eingang stand der gleiche Monster-Indio Wache, der ihn aus dem Schiffswrack gerettet hatte. Sein Kopf mit den winzigen, aber sehr aufmerksam blickenden Augen kam Indiana immer hoch lächerlich klein für den riesigen Körper vor; aber dafür war die steinerne Axt, die er in einer seiner gewaltigen Pranken hielt, um so größer. Indiana verzichtete darauf, herauszufinden, wie gut er mit dieser Waffe umgehen konnte, und kehrte zu den anderen zurück.

«Das ist doch vollkommen sinnlos«, sagte Reuben, resignierend, aber auch mit einer Spur von Schadenfreude in der Stimme, als Indiana sich wieder neben ihn auf den nackten Felsboden sinken ließ.»Ich habe es auch schon versucht. Sowohl mit guten Worten als auch mit Gewalt. «Er lächelte schmerzlich.»Aber der Bursche ist nicht nur taub wie ein Felsen, sondern auch genauso widerspenstig. «Er beugte sich über Henley, der im Schlaf den Kopf hin- und hergeworfen hatte und stöhnte, sah einen Moment lang besorgt auf ihn hinab und richtete sich dann wieder auf.»Außerdem«, knüpfte er an seine Worte an,»würde es wahrscheinlich auch nichts nützen, wenn wir hier herauskämen. Oder wissen Sie zufällig, wo wir sind?«

«Nein«, gestand Indiana.»Aber ich glaube, einer der Gründe dafür, daß ich immer noch am Leben bin, ist der, daß ich mir über solche Dinge erst den Kopf zerbreche, wenn sie akut werden.«