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Reuben blickte ihn einen Moment lang irritiert an, dann zuckte er andeutungsweise mit den Achseln.»Das gilt vielleicht in einer normalen Gegend«, sagte er,»mit normalen Menschen. Aber nicht in einer Welt voller … voller Ungeheuer.«

«Glauben Sie, daß sie das sind?«fragte Indiana.»Ungeheuer?«

«Jedenfalls sind es keine normalen Menschen!«antwortete Reuben weitaus heftiger als nötig gewesen wäre. Er begriff wohl selbst, daß er sich im Ton vergriffen hatte, denn er lächelte entschuldigend und fuhr mit jetzt eher verwundert als zornig klingender Stimme fort.»Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, was sie sind. «Er machte eine hilflose Geste und ein entsprechendes Gesicht.»Wissen Sie, Jones«, fuhr er fort.»Ich habe so etwas bisher nur ein einziges Mal gesehen.«

Indiana sah ihn fragend an.

«Auf dem Jahrmarkt«, erklärte Reuben.»Ich war damals noch ein Kind — vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Mein Vater hat mich in eine dieser Freak-Shows mitgenommen. Sie wissen doch — eines dieser Zelte, in denen man die bärtige Frau oder Siamesische Zwillinge oder einen Mann mit Schlangenhaut begaffen kann. Aber das waren …«Er suchte krampfhaft nach Worten.»Mißgeburten, Krüppel — bedauernswerte Geschöpfe im Grunde.«

«Sind das diese Indios nicht?«

Der verkappte Vorwurf, der in dieser Frage mitschwang, tat Indiana beinahe im gleichen Moment schon wieder leid. Aber Reuben schien ihn gar nicht zu hören; und wenn, so überging er ihn.

«So etwas kommt vielleicht einmal bei hunderttausend Menschen vor!«fuhr Reuben fort und wurde wieder heftiger.»Es ist die Ausnahme, Jones. So erstaunlich, daß es lohnt, sie auf dem Jahrmarkt auszustellen. Aber hier scheint ein … ein ganzes Volk von Mißgeburten zu leben.«

«Vielleicht hat das einen Grund«, sagte Indiana nachdenklich.

«Und welchen?«

«Ich weiß es nicht«, erwiderte Indiana.»Und ich bin auch nicht besonders sicher, daß ich es wissen will.«

Reuben schwieg sekundenlang und starrte an Indiana vorbei ins Leere. Dann sagte er:»Wissen Sie, woran mich diese Männer noch erinnern, Jones?«

«Nein.«

«Wirklich nicht?«Reuben lachte humorlos.»Haben Sie unseren blinden, verkrüppelten Freund schon vergessen?«

«Ramos?«fragte Indiana zweifelnd.»Wie kommen Sie darauf?«

«Ich weiß es nicht«, murmelte Reuben.»Aber ich habe das Gefühl, daß die ganze Geschichte viel komplizierter ist, als wir bisher alle geglaubt haben. «Er wollte weitersprechen, legte aber plötzlich den Kopf schräg und lauschte einen Moment.»Da kommt jemand«, sagte er dann.

Als Indiana sich zum Eingang umwandte, traten zwei bewaffnete Indios in die Höhle. Und zwischen ihnen –

«Marcus!« schrie Indiana überrascht. Mit einem Satz war er auf den Füßen, rannte auf Marcus Brody zu und schloß ihn so ungestüm in die Arme, daß er ihn um ein Haar von den Füßen gerissen hätte.

Marcus keuchte vor Überraschung. Einige Augenblicke lang ließ er Indianas Wiedersehensfreude wortlos über sich ergehen, dann befreite er sich mit sanfter Gewalt aus seinem Griff und trat einen halben Schritt zurück.

«Marcus«, sagte Indiana noch einmal.»Großer Gott, du lebst! Und du bist unverletzt!«

«Natürlich lebe ich«, sagte er in einem Ton solcher Verblüffung, als hätte Indiana ihn gefragt, warum die Sonne am Morgen aufgeht.»Aber was tust du hier? Du solltest hundert Meilen entfernt sein und diesen Schuft jagen, der mich entführt und hierhergebracht hat.«

Es dauerte einen Moment, bis Indiana ihn verstand.»Ra-mos?«vergewisserte er sich.»Er hat dich hierhergebracht?«

«Nicht direkt«, schränkte Marcus ein.»Und auch nicht ganz freiwillig. Und, wie ich betonen möchte, ist es auch nicht unbedingt sein Verdienst, daß ich mich am Leben und in guter körperlicher Verfassung befinde. «Er legte die Stirn in Falten.»Dieser Ramos ist der unmöglichste Mensch, dem ich jemals begegnet bin, Indiana. Seine Manieren lassen zu wünschen übrig, sehr vorsichtig ausgedrückt. Deshalb habe ich es schließlich auch vorgezogen, mich aus seiner Gesellschaft zu entfernen.«

«Sie sind ihm entkommen?«fragte Reuben zweifelnd.»Wie?«

Marcus wandte sich mit einem herablassenden Lächeln an den FBI-Beamten, aber er schien wohl im letzten Moment Indianas warnenden Blick aufzufangen, denn plötzlich lächelte er fast verlegen und zuckte mit den Schultern.»Eigentlich war es pures Glück«, gestand er.»Die Wächter griffen Ramos’ Mörderbande an, und in dem Durcheinander konnte ich entkommen.«

«Und dann?«fragte Reuben.

Wieder antwortete Marcus nicht sofort. Der Ausdruck von Verlegenheit auf seinen Zügen wurde stärker.»Ich gestehe, daß es vielleicht etwas übereilt war, bei der erstbesten Gelegenheit zu fliehen«, murmelte er.»Um ganz ehrlich zu sein — ich bin stundenlang durch den Dschungel geirrt und war halb verdurstet und zu Tode erschöpft, als die Wächter mich fanden.«

«Die Wächter?«Es war das zweite Mal, daß Marcus diesen Ausdruck benutzte.

«Die Männer, die Sie und Ihre Freunde aus dem sinkenden Schiff gerettet haben, Dr. Jones«, erklärte eine Stimme vom Eingang her.»In unserer Sprache tragen sie einen anderen Namen, aber ich glaube, dieser Ausdruck kommt seiner Bedeutung nahe genug.«

Indiana sah an Marcus vorbei und riß ein zweites Mal und noch verblüffter die Augen auf, als er erkannte, wer da gesprochen hatte. Es war der Häuptling der Aymará-Indianer, dessen Dorf sie vor drei Tagen verlassen hatten.

«Sie?«murmelte er. Er war überrascht — aber nicht allzusehr. Im Grunde hätte er es sich denken können.

Der alte Mann lächelte, deutete ein Nicken an und kam näher. Seltsam — vielleicht lag es an der Beleuchtung, vielleicht war es auch nur Einbildung — aber Indiana hatte das Gefühl, daß er sich hier viel sicherer und kraftvoller bewegte als beim letzten Mal. In seinem Gesicht gab es einen energischen Zug, der vorher nicht dagewesen war. Und er schien jetzt noch viel mehr als zuvor ein Herrscher zu sein, ein Mann, der zwar alt, aber nicht gebrechlich, der sanftmütig, aber nicht weich war.

«Sie?«fragte er noch einmal.»Aber wieso — «

Der Aymará-Häuptling machte eine knappe, befehlende Geste.»Ich bin hier, um Ihnen alles zu erklären, Dr. Jones«, sagte er.»Aber lassen Sie uns zu Ihren Freunden gehen. Das macht es überflüssig, alles zweimal erzählen zu müssen.«

Diesmal war Indiana sicher, Spott in seiner Stimme zu hören. Dann fiel ihm noch etwas auf. Der Aymará sprach plötzlich ein so perfektes Englisch, als wäre dies seine Muttersprache. Doch er sagte dazu nichts weiter, sondern fügte diesen Punkt der langen, sehr langen Liste von Fragen hinzu, die er dem alten Mann stellen wollte, und ging zusammen mit ihm und Marcus zu Reuben und den anderen zurück.

Wortlos und mit einem Ausdruck im Gesicht, den Indiana nicht zu deuten vermochte, musterte er einen nach dem anderen, sehr lange und sehr aufmerksam und auf eine Art, als genüge ihm ein einziger Blick in ein Gesicht, um den wirklichen Menschen dahinter zu erkennen und ein Urteil über ihn zu fällen. Am längsten blickte er auf den fiebernden Henley hinab, und schließlich beugte er sich zu ihm hinunter, berührte seine glühende Stirn mit der Hand und schloß für einen Moment die Augen. Und etwas geradezu Unheimliches geschah. Henley hörte nach einigen Sekunden auf, wirre Wortfetzen und Laute zu stammeln, und Indiana konnte sehen, daß sich sein hämmernder Pulsschlag beruhigte.

Nicht nur er starrte den alten Aymará fassungslos an, als dieser sich nach einer Weile wieder aufrichtete und den Blick nun auf Reuben heftete.

Der FBI-Beamte hielt seinem Blick nur einen Moment lang stand. Schon bald begann er, sich unruhig auf der Stelle zu bewegen und nervös mit den Händen zu spielen.»Was wollen Sie?«fragte er schließlich. Seine Stimme zitterte, und er brachte nicht die Kraft auf, dem alten Mann offen ins Gesicht zu sehen.»Wieso halten Sie uns hier gefangen? Wir sind nicht Ihre Feinde. Mit dem, was Ramos getan hat, haben wir nichts zu schaffen.«