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Auch Reuben war blaß geworden, obwohl ihn das, was sie erblickten, im Grunde ebensowenig hätte überraschen dürfen wie Indiana. Auf seinem Gesicht mischten sich Zorn und Hilflosigkeit miteinander.

«Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden, alter Mann!«sagte er mit zitternder Stimme. Wütend deutete er auf die Toten.»Das da ist ganz allein deine Schuld! Du wolltest mir nicht glauben, wie? Ich habe dir vorhergesagt, was passieren würde, wenn ihr versuchen solltet, Ramos mit Gewalt aufzuhalten!«

«Hören Sie schon auf, Reuben«, sagte Indiana müde.»Bitte!«

Reuben funkelte ihn böse an, und für einen Moment sah es so aus, als würde sich sein Zorn nun auf Indiana entladen. Doch dann wich die Wut so abrupt wieder aus seinem Blick, wie sie aufgeflammt war. Im Grunde, das begriff Indiana plötzlich, war er nicht wirklich wütend gewesen. Wahrscheinlich war dies einfach seine Art, mit dem Entsetzen fertig zu werden.

«Wahnsinn«, flüsterte er.»Mit Pfeil und Bogen gegen Flammenwerfer und MPs. Wahnsinn!«

«Wo sind sie?«fragte Indiana.

Der Aymará machte eine unbestimmte Geste in den Nebel.»Dort. Auf dem Weg zum Gipfel. Meine Männer verfolgen sie — aber keine Sorge«, fügte er rasch hinzu, als er Indianas Erschrecken bemerkte,»sie werden sie nicht mehr angreifen.«

«Das hätte nicht passieren müssen«, flüsterte Reuben.»Wir hätten euch geholfen, du alter Narr. Zusammen hätten wir es geschafft.«

«Um noch mehr Blut zu vergießen?«Der Häuptling schüttelte traurig den Kopf.»Was geschehen muß, wird geschehen. Es ist der Wille der Götter, der zählt, nicht die Pläne der Menschen. Die Mörder werden ihrer Strafe nicht entgehen.«

Indiana blickte sekundenlang in die Richtung, in die der alte Mann gedeutet hatte, aber er sah dort nichts als grauen, undurchdringlichen Nebel. In der anderen Richtung erstreckte sich ein sanft abfallender, steiniger Hang, aus dem nur spärliche Pflanzen wuchsen. Als die Indios sie hierhergebracht hatten, war Indiana viel zu erschöpft gewesen, um auf seine Umgebung zu achten; jetzt begriff er, daß sich die Höhle offensichtlich in der Flanke eines Berges befand, der den Dschungel überragte und dessen Gipfel in diesem immerwährenden Nebel verborgen war. Indiana wußte einfach, daß sich dieser Nebel niemals lichtete. Und daß er niemals aufgerissen war, seit dieser Berg existierte.

Auch das gehörte zu dieser sonderbaren Nicht-Realität, in der er sich seit seinem Erwachen gefangen fühlte: daß es Dinge gab, die er einfach wußte, ohne daß es eines Beweises bedurft hätte.

Mit einer Mischung aus Furcht und Resignation wandte er sich an den Aymará-Häuptling.»Und was geschieht jetzt mit uns?«fragte er.

«Ich habe nachgedacht und mich mit meinen Brüdern beraten«, antwortete der Alte.»Ich glaube, wir können euch vertrauen. Ihr seid nicht wie die anderen, die herkamen, um nach Reichtum zu suchen. Ihr könnt gehen. Meine Krieger werden euch bis zum Fluß führen. Von dort werdet ihr den Weg zurück allein finden. Es ist nicht leicht, aber ihr könnt es schaffen.«

«Und Henley?«fragte Reuben.

«Euer Kamerad kann hierbleiben, bis er weit genug genesen ist, euch zu folgen«, antwortete der Alte.»Keine Sorge — ihm wird nichts geschehen.«

«Du läßt uns … einfach so gehen?«vergewisserte sich Indiana zweifelnd.

«Ich sagte bereits — ihr seid nicht wie die anderen, die vor euch kamen«, wiederholte der Alte.»Ich vertraue euch.«

Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Auch das spürte Indiana deutlich, als er in die Augen des alten Mannes blickte. Er würde sein Wort halten und sie gehen lassen — es gab für ihn keinen Grund, ihnen etwas vorzuspielen, um sie dann irgendwo dort unten im Wald hinterrücks ermorden zu lassen. Hätte der Alte ihren Tod gewollt, dann hätten sie das gekenterte Boot im Fluß niemals verlassen. Und doch wußte Indiana, daß noch etwas geschehen würde, bevor er sie gehen ließ.

Aber ehe er noch eine entsprechende Frage stellen konnte, geschah etwas Unheimliches.

Es war Indiana plötzlich unmöglich, seinen Blick von dem des Alten zu lösen. Er sah in Augen, die direkt bis auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen und die … etwas darin berührten. Jeder Zweifel an der Aufrichtigkeit des alten Mannes, jeder Gedanke an den Grund ihres Hierseins, ja, selbst die Erinnerung an Corda, an Ramos und selbst Marian — das alles verblaßte und wurde unwichtig. Es war noch da, aber es war plötzlich so, als spielte das alles keine Rolle mehr, als wäre alles Teil eines Traumes, der realistisch gewesen war, aber keinerlei Einfluß auf sein wirkliches Leben hatte.

Lange, unendlich lange, wie ihm schien, stand der Aymará einfach da und sah ihn an, dann wandte er sich langsam um und richtete seinen unheimlichen Blick auf Reuben, und Indiana konnte sehen, wie auch in den Augen des FBI-Beamten etwas erlosch. Für einen Moment spiegelte sich Schrecken auf Reubens Gesicht, dann verging auch der, und zurück blieb eine tiefe Gelassenheit, die nichts mehr erschüttern konnte.

Nacheinander ging der Aymará von Mann zu Mann, der unheimliche, aber trotzdem nicht erschreckende Vorfall wiederholte sich bei jedem einzelnen. Auf einer tieferen Ebene seines Bewußtseins begriff Indiana sehr wohl, daß die unheimliche Macht dieses Mannes sich nicht darauf beschränkte, Gedanken zu lesen; sondern auch, sie zu beherrschen. Aber er versuchte vergeblich, Zorn darüber zu empfinden.

Sie brachen auf, diesmal nur von zweien der mißgebildeten Aymará-Krieger und ihrem Häuptling selbst begleitet. Niemand sprach, niemand versuchte sich den Anweisungen des Aymará zu widersetzen. Selbst Reuben ging wortlos neben dem alten Mann und seinen beiden monströsen Begleitern her, während sie sich langsam den Berghang wieder hinabbewegten und sich der Wechsel von Felsen zu Pflanzenwuchs und wieder zu Felsen vor ihnen vollzog.

Der Nebel lichtete sich nur langsam. Gut eine Stunde lang marschierten sie durch feuchtes Grau, ehe das erste Mal wieder die Sonne durch eine Lücke im Blätterdach zu ihnen herabschien. Und jeder einzelne Schritt, den sie in dieser Stunde taten, schien sie ein Stück fort in eine andere Wirklichkeit zu bringen, in eine Welt, in der es die Tage seit ihrer Rettung aus dem gekenterten Boot am Ende einfach nicht mehr geben würde. Dieser Gedanke erfüllte Indiana schließlich doch mit Zorn — nein, nicht Zorn, sondern eher mit einer Mischung aus Verbitterung und Trauer. Er fand es ungerecht, daß ihm diese Tage seines Lebens einfach genommen werden würden, herausgerissen wie Seiten aus einem Buch, auf denen ein furchtbares Geheimnis aufgeschrieben war. Doch auch dieser Gedanke entglitt ihm schließlich wieder. Mit Schritten, die so monoton waren wie die eines Automaten, bewegte er sich zwischen den anderen dahin, tiefer in den Dschungel hinein und fort von dem Weg, hinter dessen himmelstürmenden Flanken sich vielleicht eines der letzten großen Geheimnisse dieser Welt verbarg.

Sie traten auf eine schmale Lichtung im Wald hinaus, als eine plötzliche Windböe den Nebel über ihnen auseinanderriß. Nicht lange und nicht völlig; der Gipfel des Berges war noch immer hinter grauen Schleiern verborgen und würde es auch immer bleiben, aber Indiana konnte doch erkennen, daß er viel höher war, als er bisher angenommen hatte, und die Form eines stumpfen Kegels mit steilen Wänden hatte. Vermutlich der Krater eines erloschenen Vulkans.

Und auf halber Höhe bewegte sich eine Kette winziger menschlicher Gestalten.

Indiana blieb stehen und sah zu den ameisengroßen Figuren hinauf, bis sich die Lücke im Nebel wieder schloß und sie seinen Blicken wieder entzog. Aber auch dann ging er nicht weiter, sondern sah in den Nebel empor.

Auch Marcus war stehengeblieben, und nach einigen Augenblicken machte auch Reuben kehrt, kam die wenigen Schritte zu ihm zurück und legte den Kopf in den Nacken, um in die gleiche Richtung blicken zu können wie Indiana.»Was haben Sie?«fragte er. Seine Stimme klang dünn und flach; so, als interessiere ihn seine eigene Frage im Grunde gar nicht.