Eine gute halbe Stunde lang waren sie nebeneinander durch diesen unheimlichen Nebel gelaufen, der bald so dicht geworden war, daß Indiana nicht einmal mehr Marcus’ Gesicht hatte erkennen können, obwohl er kaum einen halben Meter von ihm entfernt war. Was sie während dieser Zeit gefunden hatten, hatte beinahe schon ausgereicht, Indiana an seinem Verstand zweifeln zu lassen. Dabei hätte es ihn warnen müssen. Und trotzdem traf Marcus und ihn der Anblick des Talkessels mit der Wucht eines körperlichen Hiebes.
Das Tal, das nichts anderes als der Krater eines erloschenen Vulkanes war, hatte einen Durchmesser von drei, vielleicht vier Meilen. Alles unter ihnen bestand aus Gold. Und es war nicht einfach nur eine Ansammlung von Goldklumpen und — brocken, es war ein gewaltiger, wuchernder Dschungel, ein winziger, aber perfekt nachgebildeter Ausschnitt einer schon vor Jahrhunderttausenden oder — millionen untergegangenen Welt, die akribisch bis ins letzte Detail aus dem gelben Edelmetall nachgebildet worden war. Es gab Büsche und Sträucher, Felsen und Bäume, Gräser und mannshohe Farngruppen, alles mit schier unglaublicher Präzision herausgearbeitet. Selbst der Boden, auf dem sie standen, bestand aus Gold.
Während sie sich durch den Nebel getastet hatten, war Indiana ein paarmal stehengeblieben und hatte das eine oder andere aufgehoben — eine Pflanze, ein winziges Tier, oder einfach nur einen Stein, der kein Stein war. Jeder einzelne Gegenstand, den Marcus und er betrachtet hatten, war seinem natürlichen Vorbild auf die gleiche, unvorstellbar genaue Art nachgebildet, nachempfunden wie die beiden Stücke aus Stanley Cordas Besitz, die er in New York gesehen hatte.
Nein — er hätte nicht überrascht sein dürfen von dem, was sie jetzt sahen. Aber er war es trotzdem, denn das, was vor ihnen lag, war vollkommen unmöglich. Kein Volk dieser Welt, ganz gleich, wie hoch entwickelt seine Kultur und Technik war, ganz gleich, wieviel Zeit und welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung standen, konnte so etwas vollbringen. Er mußte plötzlich wieder an das denken, was der Aymará-Häuptling ihnen erzählt hatte, und mit einem Male kam ihm seine Behauptung, die Götter selbst hätten diesen Teil der Welt erschaffen, gar nicht mehr so weit hergeholt vor. Plötzlich hatte er nur noch Angst. Sie hatten El Dorado gefunden. Sie hatten das vielleicht größte Geheimnis dieses Planeten gelüftet, aber er spürte keinen Triumph, keine Freude, nicht einmal Zufriedenheit. Was er sah, erfüllte ihn mit einer an Panik grenzenden Furcht. Sie sollten nicht hiersein. Kein Mensch dieser Welt sollte hiersein. Ganz gleich, wer diese fantastische Landschaft aus Gold erschaffen hatte und warum — es waren keine Menschen gewesen, und dies war kein Ort, an dem Menschen leben konnten.
Fünf, vielleicht sogar zehn Minuten standen Marcus und er einfach reglos da und starrten auf das in allen nur denkbaren Schattierungen von Gold schimmernde Abbild einer längst untergegangenen Welt unter sich, ehe Indiana endlich seine Lähmung überwand und einen zögernden Schritt machte. Ein warmer Windhauch schlug ihm entgegen, und er blieb noch einmal stehen und hob den Kopf. Der Anblick, den der Himmel bot, war kaum weniger unheimlich als der des Vulkankraters. Der Nebel war hinter ihnen zurückgeblieben, aber er war nicht etwa dünner geworden und hatte sich auch nicht gelichtet, sondern hörte plötzlich wie abgeschnitten auf, um einen beinahe zum Greifen nahe über dem Talboden hängenden Himmel zu bilden. Auch das war unmöglich, wie Indiana sehr wohl wußte. Aber anscheinend hatten sie einen Winkel der Welt betreten, in dem die Gesetze der Physik und Logik außer Kraft gesetzt waren. Es hätte Indiana auch nicht weiter verwundert, wären sie auf einen Fluß gestoßen, der bergauf strömte.
«Fünfzig bis sechzig Millionen«, sagte Marcus plötzlich. Seine Stimme war dünn und zitterte, er atmete heftig und so schwer, als hätten sie die letzten Meilen im Laufschritt zurückgelegt, und im ersten Moment verstand Indiana gar nicht, was er meinte. Fragend sah er ihn an.
«Das da unten ist mindestens fünfzig oder sechzig Millionen Jahre alt«, wiederholte Marcus mit einer erklärenden Geste auf den goldenen Dschungel.»Einige dieser Pflanzen sind vor fünfzig Millionen Jahren ausgestorben. Erinnerst du dich an den Saurier?«
Natürlich erinnerte sich Indiana. Die lebensgroße Nachbildung der fleischfressenden Riesenechse war so unvermittelt aus dem Nebel vor ihnen aufgetaucht, daß Indiana fast vor Schrecken aufgeschrien hätte. Paläontologie war nicht unbedingt sein Spezialgebiet — aber er wußte, daß Marcus mit seiner Schätzung ziemlich richtig lag — plus/minus ein paar Millionen Jahre. Was machte das schon? Trotzdem schüttelte er den Kopf.
«Unmöglich«, sagte er mit einer Stimme, deren Klang verriet, wie wenig ihn seine eigenen Worte überzeugten.»Vor fünfzig Millionen Jahren gab es noch keine Menschen.«
«Wer sagt dir denn, daß es Menschen waren?«erwiderte Marcus ruhig.
Indiana sah ihn sehr unsicher an, verzichtete aber vorsichtshalber auf eine Antwort und drehte sich wieder herum, um weiterzugehen. Er mußte sich mit Gewalt in Erinnerung rufen, was sie überhaupt wollten. Es wurde wärmer, je mehr sie sich dem Rand des bizarren Urweltdschungels näherten. Der Boden unter ihren Füßen knisterte, und Indiana handelte sich zwei schmerzhafte Schnitte an den Händen ein, ehe er endgültig begriff, daß die Pflanzen, die er sah, nur wie Gräser und Farne aussahen, aber zum Teil rasiermesserscharfe Kanten hatten.
Jeder Schritt, den sie taten, führte sie tiefer in eine fantastische, vor unvorstellbar langer Zeit untergegangene Welt hinein. Obwohl alles in ihm sich dagegen sträubte, den Gedanken als wahr anzuerkennen, begriff Indiana doch sehr wohl, wie recht Marcus mit seiner Behauptung gehabt hatte. Sie stießen auf Pflanzen und Tiere, die noch keines Menschen Auge erblickt hatten, auf Geschöpfe, von denen bisher niemand wußte, daß es sie überhaupt jemals gegeben hatte. Einmal stolperte Marcus in ein Spinnennetz hinein, das einen Durchmesser von sicherlich acht oder zehn Metern hatte, und dessen Fäden wie messerscharfer Draht in seine Haut schnitten, ein anderes Mal hätte sich Indiana beinahe selbst aufgespießt, als er aus reiner Gewohnheit nach einem dünnen Zweig schlagen wollte, der ihm im Weg hing, und sich erst im letzten Moment wieder daran erinnerte, daß nichts von alledem hier lebendig war.
Sie waren gute hundert Meter weit in den Golddschungel eingedrungen, als sie den Toten fanden.
Er hockte mit angezogenen Knien am Stamm eines fast mannsdicken Farnbaumes, und im ersten Moment prallte Indiana erschrocken zurück, weil er ihn für einen von Ramos’ Männern hielt, der zurückgeblieben war, um Wache zu halten. Aber im fast gleichen Moment erkannte er auch, daß er sich getäuscht hatte. Der Mann war tot. Er starrte aus weit aufgerissenen, erloschenen Augen an Indiana und Marcus vorbei ins Leere, und das Gewehr in seinen verkrampften Händen war auf den Boden gerichtet. Sein Gesicht und die Haut an seinen Armen und Händen wiesen furchtbare Verbrennungen auf, und der Schädel unter der halb heruntergerutschten Mütze war beinahe kahl, das Haar zum größten Teil ausgefallen.
«Mein Gott …«flüsterte Indiana entsetzt.»Was … ist hier passiert?«
Marcus antwortete nicht, aber er tat etwas, was Indiana völlig überraschte — während er selbst vor Schrecken und Ekel wie gelähmt stehenblieb und aus sicherer Entfernung auf den Toten hinabsah, ging Marcus zu ihm herüber, ließ sich vor ihm in die Hocke sinken und betrachtete aufmerksam sein verwüstetes Gesicht, hob schließlich sogar die Hand und tastete mit den Fingerspitzen über Schädel und Wangenknochen und Hals des Toten.
«Das ist keiner von Ramos’ Männern«, sagte er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte und zu Indiana zurückgekehrt war.»Ich war lange genug mit ihm und seinen Kumpanen zusammen. Er muß zu Cordas Begleitern gehören. Ich schätze, daß er schon seit zwei oder drei Tagen tot ist.«