Der Anblick ließ Morton noch einmal Tempo zulegen. So schnell er konnte, rannte er durch den engen Spalt, taumelte ins Freie und schlitterte die letzten fünf oder sechs Schritte bis zu O’Shaugnessy und den Männern mit wild rudernden Armen dahin, ehe er endgültig das Gleichgewicht verlor und stürzte.
O’Shaugnessy wollte ihm auf die Füße helfen, erstarrte dann aber mitten in der Bewegung, als er die zerschnittenen Hände sah und die breite, unregelmäßige Blutspur, die Morton hinter sich hergezogen hatte.»Was —?!«
Er sprach nicht zu Ende, und Morton kam auch nicht dazu zu antworten, denn in diesem Augenblick erscholl hinter ihnen wieder dieses tierische Gebrüll, und er mußte sich nicht herumdrehen, um zu wissen, welcher Anblick sich den Männern bot; der Ausdruck auf O’Shaugnessys Gesicht sagte ihm genug.
Hastig stemmte er sich auf Hände und Knie hoch und fuhr herum.
Der Wikinger war nur noch ein paar Schritte entfernt, und in dem heulenden Sturm und Schneegestöber wirkte er noch bizarrer und bedrohlicher als im Halbdunkel der Höhle. Er hatte seinen Helm verloren, so daß Morton sehen konnte, daß sein Haar lang und verfilzt war und ebenso vor Schmutz starrte wie sein Gesicht. Seine nackten Unterarme und die Hände waren mit zahllosen kleinen Wunden und entzündeten Schrammen übersät — was ihn aber keineswegs daran hinderte, die gewaltige Streitaxt hoch über dem Kopf zu schwingen und mit einem gellenden Gebrüll näher zu kommen.
«Vorsicht!«schrie Morton.»Paßt auf!«
Aber keiner der Männer reagierte. Der Anblick schien sie zu lähmen. Alle starrten den herannahenden Riesen an.
Alle — bis auf O’Shaugnessy. Der Erste Offizier der POSEIDON war der einzige, der seine Überraschung überwand; und er beging den größten — und letzten — Fehler seines Lebens. Den Ausdruck auf dem Gesicht des Wahnsinnigen und die Waffe in seinen Händen ignorierend, hob er den Arm und trat ihm entgegen.
«Beruhigen Sie sich«, sagte er.»Wir sind nicht — «
Die Streitaxt vollführte eine blitzartige, kreiselnde Bewegung, dann war O’Shaugnessys linke Hand plötzlich verschwunden, und der Ausdruck von Unsicherheit auf seinem Gesicht machte dem grenzenloser Überraschung Platz. Eine Sekunde lang stand er einfach nur da und starrte den blutenden Stumpf an, als könne er nicht begreifen, was er sah. Dann begann er zu taumeln, brach ganz langsam in die Knie und stürzte nach vorne. Alles ohne einen einzigen Laut.
Morton ließ sich zur Seite fallen, als der Besessene heranstürmte. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten verfehlte ihn die Streitaxt nur um Haaresbreite, aber diesmal war er vorbereitet: Obwohl verletzt und selbst fast wahnsinnig vor Angst, wälzte er sich herum, stellte dem Wikinger ein Bein und griff mit beiden Händen nach dem Axtstiel, als der Wikinger tatsächlich stolperte.
Es gelang ihm nicht, dem Wahnsinnigen die Waffe zu entreißen, aber es gelang ihm zumindest, ihn niederzuringen und ihn für Sekunden festzuhalten. Dann bohrte sich das hochgerissene Knie des Wikingers in seine Seite, und seine gebrochenen Rippen verwandelten seinen ganzen Körper in ein loderndes Meer von Schmerzen. Er schrie auf und ließ den tobenden Riesen los.
Kapitän Morton mußte wohl für einige Augenblicke das Bewußtsein verloren haben, denn das nächste, was er wahrnahm, war ein ganzes Knäuel von Leibern und ineinander verstrickten Gliedern, die ein Stück neben ihm miteinander rangen. Schreie und wütendes Gebrüll waren zu hören, und dazwischen immer wieder das Klatschen von Schlägen.
Benommen wälzte sich Morton herum, preßte die Hand auf seine pochende Seite und versuchte die roten Schleier wegzublinzeln, die vor seinen Augen wogten. Die Männer hatten endlich ihre Lähmung überwunden und sich auf den Angreifer gestürzt. Aber irgend etwas stimmte nicht. Obwohl vier gegen einen, schienen sie erhebliche Schwierigkeiten zu haben, den Mann zu halten. Und die Männer, die O’Shaugnessy ausgesucht hatte, waren alles andere als Schwächlinge.
«O’Shaugnessy!«
Morton vergaß für Augenblicke den Verrückten und kroch auf Händen und Knien zu seinem verwundeten Ersten Offizier hinüber.
O’Shaugnessy regte sich nicht. Er lag in einer gewaltigen, rasch größer werdenden Blutlache, die in der eiskalten Luft dampfte; in seinen weit geöffneten Augen und auf dem starren Gesicht war noch immer nicht die mindeste Spur von Schmerz zu erkennen, sondern noch immer dieses völlig fassungslose Erstaunen.
Er war tot.
Morton schloß die Augen, ballte in hilflosem Zorn die Fäuste und blieb fast eine Minute reglos und mit zitternden Händen vor der Leiche seines Ersten Offiziers sitzen. Er hatte O’Shaugnessy nie gemocht, und er hatte niemals einen Hehl daraus gemacht; weder O’Shaugnessy selbst noch der Besatzung gegenüber. Aber es war so sinnlos gewesen, so vollkommen überflüssig und dumm. Er begriff einfach nicht, was sich O’Shaugnessy dabei gedacht hatte, dem Wahnsinnigen völlig unbewaffnet gegenüberzutreten.
Plötzlich packte ihn Zorn; ein rasender, glühendheißer Zorn, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Er würde diesen Kerl umbringen, diesen Verrückten, der versucht hatte, ihn zu töten; der O’Shaugnessy umgebracht und vielleicht auch noch Paulsen auf dem Gewissen hatte.
Er sprang auf, rannte zurück zu der Stelle, an der die Männer noch immer mit dem Wahnsinnigen kämpften, und bückte sich nach einem Gewehr, das einer der Männer fallen gelassen hatte. Seine Hände tasteten nach dem Abzug, aber er konnte die Finger kaum noch bewegen. In den Schnittwunden pulsierte ein pochender Schmerz, und das Metall des Gewehrs wurde glitschig von seinem Blut. Er glitt ab, berührte versehentlich den Abzug und taumelte unter dem Rückschlag der Waffe zurück, als sich ein Schuß löste.
Die Kugel fuhr kaum eine Handbreit neben einem der Matrosen in das Eis und überschüttete die Männer mit einem Hagel von Splittern.
Trotz des Sturms hallte der Schuß unheimlich laut und verzerrt über das Eisplateau. Und das hatte eine Wirkung, mit der Morton nicht gerechnet hatte: Für einen Moment erstarrten alle — sowohl der Verrückte als auch die Männer, die versuchten ihn niederzuringen — zur Reglosigkeit. Und im gleichen Augenblick kam auch Morton wieder zur Vernunft.
Er ließ die Waffe sinken, hob sie gleich darauf wieder und richtete den Lauf auf das bärtige Gesicht des Wikingers. Aber seine Finger zitterten jetzt nicht mehr. Und er wußte, daß er nicht schießen würde. Nicht, wenn der Mann ihn nicht dazu zwang.
«Steh auf!«befahl er.»Ganz vorsichtig!«
Die vier Matrosen der POSEIDON bewegten sich hastig zur Seite, um ihm freies Schußfeld zu gewähren, und der Blick des Verrückten bohrte sich in seine Augen.
Und Morton war plötzlich gar nicht mehr sicher, ob der Wikinger wirklich verrückt war. In seinen Augen war etwas; ein Glitzern, das Morton schaudern ließ, aber es war kein Wahnsinn.
Es war…
…dasselbe, was auch er gespürt hatte. Die gleiche mörderische Wut; dieser kaum zu beherrschende, brodelnde Haß; der Wunsch, zu töten, zu verletzen, irgend etwas zu packen und zu zerschlagen, ganz egal, was oder wen…
Diesmal kostete es Morton alle Kraft, den Zorn noch einmal zurückzudrängen und sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er war für diese Männer hier verantwortlich. Für sie und ihre Kameraden auf der POSEIDON. Er mußte einen klaren Kopf bewahren.
«Steh auf!«befahl er noch einmal.»Langsam!«
Er war nicht sicher, ob der Mann seine Worte wirklich verstand, aber verrückt oder nicht — er schien zumindest zu wissen, was ein Gewehr war. Langsam, mit kleinen fahrigen Bewegungen stemmte er sich in die Höhe und starrte Morton an.
Morton sah das Glitzern in seinen Augen, den Bruchteil einer Sekunde lang, bevor der Wahnsinnige ihn ansprang; aber wieder waren seine Bewegungen von so phantastischer, beinahe übermenschlicher Schnelligkeit, daß Mortons Reaktion zu spät kam. Ohne auf die drohend auf ihn gerichtete Waffe zu achten, warf er sich mit weit ausgebreiteten Armen vor, riß Morton von den Füßen und begrub ihn im Sturz unter sich.