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«Möglich«, antwortete er mit einiger Verspätung. Er stand auf und half Browning, sich ebenfalls von seinen Skiern zu befreien. Dabei blickte er immer wieder nach Saint Claire hinüber. Am jenseitigen Ufer waren immer mehr und mehr Menschen zusammengekommen, und tatsächlich bewegten sich jetzt gleich drei Hundeschlitten auf sie zu. Sie würden Minuten brauchen, um sie zu erreichen. Der Fluß war breiter, als er von weitem ausgesehen hatte.

«Gehen wir ihnen entgegen?«fragte Browning.

Morton überlegte einen ganz kurzen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf.»Nein«, sagte er.»Besser, wir warten hier. Sie brauchen ja nur ein paar Minuten.«

Aber das war nur die halbe Wahrheit. Er war plötzlich sicher, daß irgend etwas nicht stimmte. Und er hatte gelernt, auf seine innere Stimme zu hören. Als er ihre Warnung das letzte Mal mißachtet hatte, hätte ihn das beinahe das Leben gekostet. Vielleicht war vor ihnen eine dünne Stelle im Eis, oder es gab irgendeine andere Gefahr, von der sie nichts wußten.

Kapitän Morton kam mit dieser Vermutung der Wahrheit ziemlich nahe; aber die Gefahr ging nicht vom Fluß aus, und sie war auch nicht vor, sondern hinter ihnen. Und sie war nicht weiß, sondern schwarz, mehr als acht Fuß groß, gute acht Zentner schwer und bestand nur aus Muskeln, Klauen, Zähnen — und Hunger. Trotz seiner ungeheuren Größe bewegte sich der Kodiakbär mit der lautlosen Eleganz eines Ballettänzers. Seine Schritte verursachten nur ein kaum hörbares Knirschen auf dem Schnee, das in den Geräuschen von Mortons und Brownings keuchenden Atemzügen völlig unterging. Das Tier bewegte sich ganz instinktiv so, daß nicht einmal sein Schatten die beiden Männer warnen konnte. Hätte Morton sich nicht rein zufällig umgedreht, dann wäre der Tod vollkommen unvermittelt über die beiden Männer hereingebrochen.

Aber auch so entgingen sie ihm nur um Haaresbreite. Mortons Blick und der des riesigen Kodiakbären trafen sich für eine Sekunde, und im gleichen Moment, in dem der Mensch begriff, in welch entsetzlicher Gefahr sie sich befanden, begriff das Tier, daß die schon sicher geglaubte Beute gewarnt war. Mit einem zornigen Knurren und einer Geschwindigkeit, die man einem Wesen dieser Größe und Massigkeit niemals zugetraut hätte, stürmte es los.

Morton verschwendete keine Zeit darauf, Browning eine Warnung zuzuschreien, sondern packte den Regierungsbeauftragten kurzerhand am Kragen und zerrte ihn mit sich auf das Eis des zugefrorenen Flusses hinaus — in die einzige Richtung, die ihnen blieb.

Beinahe sofort verloren sie auf dem spiegelglatten Untergrund den Halt. Browning stolperte, kämpfte eine halbe Sekunde lang vergeblich um sein Gleichgewicht und stürzte, wobei er Morton mit sich riß. Nur knapp fünf Meter hinter ihnen stürmte der Kodiakbär zwischen den Felsen hervor und richtete sich mit einem angriffslustigen Knurren auf.

Aber auch das Raubtier hatte gewisse Schwierigkeiten mit dem Eis. Es strauchelte, drohte zu stürzen und ließ sich hastig wieder auf alle Viere niedersinken — um sofort weiterzustürmen.

Morton sprang auf, riß Browning mit sich in die Höhe und versetzte ihm einen Stoß, der ihn sofort wieder zu Boden stürzen ließ. Gleichzeitig warf er selbst sich in die entgegengesetzte Richtung.

Der Bär raste heran wie eine lebende Lawine aus Fell und Muskeln. Für einen winzigen Moment schien er unschlüssig, auf welches der beiden Beutestücke er sich stürzen sollte; aber als er sich entschied, war es zu spät. Sein eigener Schwung trieb ihn auf dem spiegelglatten Untergrund weiter. Seine Krallen rissen fingertiefe Furchen in das Eis. Es gelang ihm nicht, seinen Kurs ausreichend zu korrigieren. Haltlos schlitterte er zwischen den beiden Männern hindurch und rutschte noch gute fünfzehn, zwanzig Meter weiter, ehe er schließlich ungeschickt und ärgerlich, mit den Vordertatzen nach einem imaginären Gegner schlagend, zum Halten kam.

Abermals rappelte Morton sich auf. Sie hatten ein paar Sekunden gewonnen, aber nicht mehr. Hastig zerrte er mit den Zähnen den Handschuh von der Rechten, griff in die Tasche und zog die kleine Pistole heraus. Es war eine winzige Waffe, geradezu lächerlich gegen diesen Koloß aus Fleisch und Hunger, der bereits wieder heranstürmte. Und Morton war ganz und gar nicht sicher, ob er das Tier damit töten oder auch nur ernsthaft verletzen könnte. Aber vielleicht reichte sie ja aus, ihn wenigstens in die Flucht zu schlagen.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Browning sich umständlich erhob und beim Anblick des heranrasenden Bären erstarrte.

«Bleiben Sie liegen! Nicht bewegen!«schrie Morton. Gleichzeitig packte er die Waffe mit beiden Händen, spreizte die Beine, um sicherer zielen zu können, und legte auf den Bären an. Das Ungeheuer war noch acht Meter entfernt, dann sechs, vier…

… und plötzlich schoß ein schwarz-weiß-braunes Etwas mit der Geschwindigkeit eines D-Zugs zwischen Morton und dem Bären über das Eis.

Morton prallte mit einem Schreckensschrei zurück und riß automatisch die Waffe hoch. Ein Schuß löste sich. Der Knall klang in der kalten, klaren Luft sonderbar dünn und verloren, und der Rückstoß ließ Kapitän Morton auf dem spiegelglatten Eis endgültig die Balance verlieren. Er stürzte, rollte sich blitzschnell herum und versuchte seine Pistole auf den Bären zu richten.

Aber auch das riesige Tier war stehengeblieben, wenn auch offensichtlich mehr aus Überraschung denn aus Schrecken. Sein gewaltiger zottiger Schädel pendelte unschlüssig hin und her, und der Blick aus riesigen Augen, in denen eine beunruhigende Schläue glitzerte, tastete abwechselnd Morton, Browning und den neu aufgetauchten Gegner ab.

Auch Morton wandte den Kopf. Er sah erst jetzt, was es gewesen war, das ihn und Dr. Browning — zumindest für den Moment — vor einem unrühmlichen Ende im Magen dieses gewaltigen Bären bewahrt hatte: ein Hundeschlittengespann. Aber es war nicht irgendein Gespann. Morton verstand nicht viel von Hunden, und schon gar nicht von Schlittenhunden, aber selbst ihm war klar, daß ein schneeweißer Husky schon etwas Besonderes sein mußte. Und vor den flachen, ganz aus Bast und Weidenzweigen gefertigten Schlitten waren gleich acht weiße Schlittenhunde gespannt. Und so ungewöhnlich wie die Tiere und das Gefährt, das sie hinter sich herzerrten, waren auch die beiden Männer auf dem Schlitten.

Morton hätte sich kaum einen größeren Gegensatz als diese beiden vorstellen können. Der eine war ein Riese; ein Koloß von derartiger Statur und Schulterbreite, daß er schon beinahe mißgestaltet wirkte, mit schwarzem, kurzgeschnittenem Haar, das glänzte, als wäre es eingefettet, und den halb mongolischen, halb indianischen Gesichtszügen eines Eskimos. Der andere war ein Mann von normaler Statur, aber neben dem Eskimo wirkte er wie ein Zwerg. Und trotzdem war etwas an ihm, das beinahe sofort Mortons Aufmerksamkeit weckte. Auch wenn er nicht gleich sagen konnte, warum. Trotz der beißenden Kälte trug der Mann nur khakifarbene Hosen und eine hüftlange, an den Rändern ausgefranste Lederjacke, die von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde. Auf seinem Kopf saß ein brauner Hut, der aussah, als wäre er mit seinem Besitzer schon mindestens dreimal um den Globus gereist.

Aber es war nicht seine Kleidung, die Morton für einen Moment sogar die Gefahr vergessen ließ, in der er sich befand, sondern irgend etwas an dem Mann selbst. Er gehörte zu jenen Menschen, die man nur einmal zu sehen brauchte, um sie nie wieder zu vergessen.

Ein tiefes Knurren erinnerte Morton nachhaltig daran, daß der Anblick des Mannes mit dem Filzhut und seines hünenhaften Begleiters unter Umständen nicht nur das Erstaunlichste, sondern auch das Letzte sein konnte, was er in seinem Leben zu Gesicht bekam. Hastig rappelte er sich auf, ergriff seine Pistole wieder mit beiden Händen und wich rasch ein paar Schritte über das Eis zurück, bis er das Flußufer erreicht und festen Stand gefunden hatte. Dann hob er die Waffe, hielt sie mit ausgestreckten Armen und zielte sorgfältig. Der Ko-diakbär war ein Gigant, selbst für ein Wesen seiner Gattung. Wenn er mit dieser Spielzeugpistole überhaupt eine Chance hatte, ihn ernsthaft zu verwunden, dann nur, wenn er sehr genau traf, und das beim ersten Schuß.