«Nicht!«
Morton und der Bär erstarrten gleichzeitig mitten in der Bewegung und blickten beide gleichermaßen irritiert in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Der Hundeschlitten hatte kehrtgemacht und raste jetzt wieder auf den Bären zu, wobei er allmählich an Tempo verlor. Voller ungläubigem Staunen sah Morton zu, wie der Mann mit dem Filzhut die Zügel des Hundegespanns an den Eskimo weiterreichte, an seine Seite griff und kaum fünf Meter vor dem gigantischen Bären aus dem Schlitten sprang, obwohl das Gespann noch immer in scharfem Tempo dahinlief. Und er bewegte sich so sicher, als wäre unter seinen Füßen nicht die zugefrorene Oberfläche eines Flusses, die glatt wie Schmierseife war.
Der Bär blickte den winzigen Menschen vor sich mit einer Verwirrung an, die Morton einem Tier bis zu diesem Moment nicht zugetraut hätte. Dann schüttelte er wie ein griesgrämiger alter Mann, der sich über den infantilen Scherz eines Kindes ärgert, den Kopf und richtete sich auf die Hinterpfoten auf. Obwohl er sich nicht einmal die Mühe machte, sich zu seiner vollen Größe hochzurecken, überragte er die Gestalt vor sich jetzt gut um das Doppelte.
Erstaunlicherweise schien das den Mann nicht besonders zu beeindrucken. Im Gegenteil. Er blieb zwar stehen, machte aber keine Anstalten, die Flucht zu ergreifen oder auch nur vor dem Bären zurückzuweichen — was diesen erneut innehalten ließ. Ein Wesen von der Größe dieses Kodiakbären mußte es gewohnt sein, daß wirklich alles, was Beine hatte und in der Lage war, Angst zu empfinden, vor ihm floh.
Der Mann wich nicht. Als der Bär kampflustig die Arme ausbreitete und einen tapsigen Schritt in seine Richtung machte, spreizte der Mann nur ein wenig die Beine und hob die rechte Hand, die er vorhin zum Gürtel gesenkt hatte. Morton sah jetzt, daß sie tatsächlich eine Waffe hielt — aber eine völlig andere, als er erwartet hatte. Im ersten Moment hielt er das zusammengerollte braune Seil für ein Lasso, dann vollführte die Hand des Mannes eine blitzartige, kaum sichtbare Bewegung. Aus der Seilrolle wurde eine zuckende, geflochtene Lederschlange, die mit einem peitschenden Knall nach dem Gesicht des Bären schlug.
Das Ergebnis war erstaunlich: Der Schlag konnte kaum heftig genug gewesen sein, einem so gigantischen Tier wirklich weh zu tun; geschweige denn, es zu verletzen. Trotzdem taumelte der Bär mit einem wütenden Brüllen zurück und schlug mit den Tatzen in die Luft.
Die Peitsche knallte ein zweites Mal, und diesmal traf der Knoten an ihrem Ende genau die Nasenspitze des Kodiakbären.
Der braune Gigant brüllte vor Schmerz und Wut, zog den Kopf zwischen die Schultern und riß mit erstaunlich menschlich wirkender Geste die Tatzen vor das Gesicht. Er knurrte, bleckte wie ein angreifender Hund die Zähne und schlug zwei-, dreimal mit den Pranken in die Richtung, aus der der Angriff erfolgt war, rührte sich aber nicht von der Stelle.
Der Mann begann jetzt vor dem Bären auf und ab zu tänzeln, und (Morton zweifelte fast an seinem Verstand, aber er tat ganz genau das) er sprach mit dem Bären: Morton konnte die Worte nicht verstehen, aber er glaubte ein Lachen zu hören.
Die freie linke Hand des Mannes machte weit ausholende, wedelnde Bewegungen.
Der Bär grunzte, richtete sich plötzlich noch einmal zu seiner ganzen Größe auf, und die Peitsche traf ein drittes Mal, und diesmal noch heftiger, sein Gesicht.
Aber irgendwann, dachte Morton, würde sich selbst in dem tierischen Instinkt der Bestie die Erkenntnis durchsetzen, daß die Peitsche ihm zwar Schmerzen zufügen, ihn aber nicht wirklich verletzen konnte. Er hob seine Pistole, zielte sorgfältig und wartete darauf, daß der Mann mit der Peitsche einen Schritt zur Seite machte, um ihm freies Schußfeld zu gewähren.
Eine gewaltige Pranke legte sich auf seine Hände und drückte sie ohne sichtliche Anstrengung hinunter. Morton fuhr erschrocken zusammen, drehte sich um und blickte in ein breites, glänzendes Eskimogesicht, das aus gut sieben Fuß Höhe auf ihn herabsah.
«Was soll das?«fragte er aufgebracht. Er versuchte, seine Hände loszureißen, aber sie saßen fest wie in einen Schraubstock eingespannt. Der Griff des Eskimo war wie Stahl.
«Lassen Sie mich los!«verlangte er.»Der Bär — «
Der Riese schüttelte mit ausdruckslosem Gesicht den Kopf.»Waffe nicht nötig«, sagte er.»Bär geht…«
Morton starrte ihn eine Sekunde lang fassungslos an, dann gab er seine ohnehin aussichtslosen Bemühungen auf, seine Hände und damit die Waffe loszureißen, und blickte wieder zu dem Bären und dem Mann mit der Peitsche.
Und es schien, als hätte der Eskimo tatsächlich recht: Selbst jetzt, als er es sah, glaubte Morton es nicht wirklich — aber die riesige Bestie wich tatsächlich langsam vor dem Mann zurück! Die Peitsche knallte noch zwei-, dreimal, aber sie traf den Bären jetzt nicht einmal mehr, sondern fuhr nur pfeifend dicht vor seiner Schnauze durch die Luft. Jedesmal knurrte das Tier gereizt und schlug seinerseits mit den Pranken zu, traf aber natürlich nicht. Und dann geschah das Unfaßbare; zumindest für Morton. Mit einem letzten, jetzt beinahe trotzig klingenden Knurren ließ der Bär sich wieder auf alle Viere hinuntersinken, starrte seinen winzigen menschlichen Gegner noch einen Moment lang fast vorwurfsvoll an — und trollte sich!
Mortons Unterkiefer klappte herunter.»Aber das ist doch…«
Zum erstenmal machte sich so etwas wie eine menschliche Regung auf dem Gesicht des Eskimoriesen breit; er lächelte.»Pistole nicht nötig. Töten selten nötig.«
Und damit ließ er Mortons Hände los und wandte sich ohne ein weiteres Wort um, um zum Hundeschlitten zurückzugehen.
Morton sah ihm einen Moment lang verwirrt nach. Dann wandte auch er sich um und eilte zu Dr. Browning hinüber, der die Szene mit der gleichen Fassungslosigkeit und dem gleichen Erstaunen verfolgt hatte wie er selbst.
«Alles in Ordnung?«fragte er.
Browning nickte. Die Bewegung war fast nur zu ahnen, und in seinem Blick war ein Ausdruck, der Morton klar machte, daß der Wissenschaftler kurz davorstand, schlichtweg zusammenzuklappen.
«Wir sind außer Gefahr«, sagte er.
«Ja«, fügte eine Stimme hinter ihm hinzu.»Aber nur, wenn Sie sich ein bißchen damit beeilen, von hier wegzukommen.«
Als Morton sich umdrehte, blickte er ins Gesicht ihres Lebensretters. Es war ein kräftiges, sehr markantes Gesicht; ein wenig verwahrlost, als wäre es seit zwei oder drei Tagen weder mit einem Rasiermesser noch mit Wasser und Seife in Berührung gekommen; aber mit offenen, sympathischen Zügen und wachen Augen, die nicht so recht ins Antlitz des Abenteurers zu passen schienen, der der Mann sein mußte. Im Moment wanderte sein Blick von Morton zu Browning und wieder zurück, und der Ausdruck darin schwankte irgendwo zwischen Spott und einem sanften Vorwurf.
«Sie kennen sich nicht besonders gut in der Wildnis aus, wie?«fragte er.
Morton schüttelte automatisch den Kopf.»Nein. Wir — «
«Das merkt man«, unterbrach ihn der Fremde.»Sie sehen eigentlich nicht wie Dummköpfe aus. Haben Sie sich nicht gewundert, daß sich keine Menschenseele auf diese Seite des Flusses traut?«
Morton schüttelte abermals den Kopf.»Nein«, gestand er.
Ein dünnes, spöttisches Lächeln stahl sich auf die Lippen des anderen.»Das sollten Sie in Zukunft aber«, sagte er.»Zumindest, wenn Sie vorhaben, länger in dieser Gegend zu bleiben und es zu überleben.«
«Wer konnte denn mit so etwas rechnen?«verteidigte sich Morton.»Ich dachte, Bären halten um diese Jahreszeit Winterschlaf.«
«Normalerweise schon. Aber wenn ein paar hundert Greenhorns in der Nahe ihrer Höhlen herumtrampeln, dann werden sie schon einmal wach. «Das Lächeln des anderen wurde breiter.»Und meistens sind sie dann miserabler Laune.«