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Trotzdem hatte er es irgendwie geschafft, am Leben zu bleiben.

Aber das war auch schon alles.

In den letzten sechs Monaten schien er um Jahrzehnte gealtert zu sein, und aus dem fünfunddreißigjährigen, muskelbepackten Riesen, den sie von Odinsland gerettet hatten, war ein uralter, zitternder Greis mit schlohweißem Haar und eingefallenem Gesicht geworden, der sich nur noch mit Mühe bewegen konnte. Die drei Kugeln, die Dr. Pauly aus seinem Körper herausgeschnitten hatte, hatten keine lebenswichtigen Organe getroffen, aber er hatte eine Unmenge Blut verloren. Mortons Gewehrkugel hatte seine linke Hüfte zerschmettert, so daß er das Bein nachzog und nur unter Schmerzen gehen konnte.

Aber schlimmer als die Verletzungen, die sein Körper davongetragen hatte, waren die seines Geistes. Er sprach selten und wenn, dann meist zusammenhangloses, wirres Zeug, teils in einer fremden Sprache, die vielleicht einfach nur aus gestammelten Lauten bestand, teils auf die infantile Art eines Vierjährigen, der gerade das Sprechen lernt. Aber dazwischen gab es immer kurze lichte Momente, und es waren diese wenigen kostbaren Minuten, in denen er zu klarem Denken und Reden — und Erinnern — fähig war, um deretwegen er hier war.

«Wenn Sie Dr. van Hesling lange genug angestarrt haben, dann könnten Sie mir vielleicht sagen, was wir überhaupt hier tun«, drang eine Stimme in seine Gedanken.

Morton riß sich mühsam vom Anblick der Jammergestalt los, die auf der anderen Seite des Tisches saß und Kreise und zitterige Rechteckmuster auf ein Blatt Papier malte, und wandte sich Dr. Rosenfeld zu.

Der Anblick war so angenehm, wie der des verrückten Wissenschaftlers furchteinflößend: Dr. Rosenfeld war jung, schlank, hatte kurzgeschnittenes pechschwarzes Haar und strahlte eine unverbrauchte, natürliche Frische aus, die dazu verleitete, sie zu unterschätzen, und zwar in jeder Hinsicht. Trotz ihrer knappen sechsundzwanzig Jahre war Dr. Mabel Rosenfeld unbestritten eine der Kapazitäten auf ihrem Gebiet, der Neurologie. Aber sie sah aus, als hätte sie gerade erst die High-School absolviert, und sie gab sich nicht die allergeringste Mühe, diesen Eindruck irgendwie zu ändern, im Gegenteil. Morton hatte den Verdacht, daß sie es insgeheim liebte, unterschätzt zu werden, und sorgsam an ihrem Image arbeitete.

Dummerweise mochte sie ihn nicht. Und sie machte aus dieser Abneigung keinen Hehl.

Morton blickte einen Moment in den strömenden Regen vor dem Fenster hinaus, ehe er antwortete.»Ich muß Sie noch um ein wenig Geduld bitten, Dr. Rosenfeld«, sagte er.

Der Ausdruck von Unmut auf Mabel Rosenfelds Gesicht vertiefte sich.

«Das tun Sie jetzt schon eine ganze Weile, Mr. Morton«, sagte sie.»Um genau zu sein, seit wir hier angekommen sind. Und das war gestern«, fügte sie spitz hinzu.

Morton seufzte.»Ich weiß«, gestand er.»Aber unser Unternehmen ist von größter Wichtigkeit, glauben Sie mir. Ich darf Ihnen keine Einzelheiten verraten. Noch nicht. Und ich könnte es noch nicht einmal, selbst wenn ich es wollte. Ich weiß nur wenig mehr als Sie.«

Was eine glatte Lüge war. Aber Browning hatte ihm in den düstersten Farben ausgemalt, was ihm und seiner Karriere als Kapitän alles zustoßen könnte, wenn er auch nur ein Sterbenswörtchen verriet. Und Morton schätzte den Regierungsbeauftragten nicht als jemanden ein, der leere Drohungen ausstieß.

Trotzdem war Morton nicht wohl dabei, Dr. Rosenfeld zu belügen. Und was sie sagen würde, wenn sie erst erfuhr, daß zwar ihr Schützling, nicht aber sie selbst dieses Hotel zusammen mit den anderen verlassen würde, wagte er sich erst gar nicht vorzustellen.

Er verscheuchte den Gedanken und stand auf, wobei er van Hesling mit einem weiteren nervösen Blick streifte, der Dr. Rosenfeld natürlich nicht entging.

«Sie können mich ruhig mit ihm allein lassen«, sagte sie spöttisch.»Er tut nichts.«

Morton widersprach nicht, aber er blickte vielsagend auf seine linke Hand hinunter. Ring-, Mittel- und kleiner Finger waren steif geblieben; ein Andenken an seine erste Begegnung mit van Hesling.

«Ich weiß, was Sie sagen wollen«, fiel ihm Dr. Rosenfeld ins Wort, noch bevor er antworten konnte.»Aber das ist vorbei. Er war nicht bei Sinnen, damals.«

Morton bedachte van Hesling mit einem langen, abschätzenden Blick.»Das scheint er mir jetzt auch noch nicht zu sein«, meinte er vorsichtig.

«Das stimmt. «Mabel Rosenfelds Stimme klang jetzt hörbar kühler als bisher, und Morton begriff, daß er sie unabsichtlich beleidigt hatte. Wenn er die beiden — sie und den verrückten Deutschen — so betrachtete, dann erschien ihm der Gedanke geradezu absurd, aber es mußte wohl so sein, daß etwas in van Heslings hilfloser, ungeschickter Art ihre Mutterinstinkte weckte. Auf jeden Fall hatte man ihn gewarnt: Wenn es um van Hesling ging, dann benahm sich Dr. Rosenfeld wenig anders als eine Raubkatze, die ihre Jungen verteidigte. Und sie hatte verdammt scharfe Krallen.

«Ganz wie Sie meinen«, sagte er und wandte sich zur Tür.»Wenn Sie mich suchen oder irgend etwas brauchen, ich bin unten in der Lobby.«

Er ging zur Tür, klopfte dreimal und wartete, bis der Posten auf der anderen Seite des Ganges auf das vereinbarte Signal hin aufschloß. Die Suite im obersten Stockwerk des New Yorker Hilton kostete pro Woche wahrscheinlich mehr, als er in einem halben Jahr verdiente, aber das änderte nichts daran, daß sie im Moment ein Gefängnis war. Ein äußerst komfortables Gefängnis zwar, aber trotzdem ein Gefängnis.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was an dem, was er in der Höhle auf Odinsland entdeckt hatte, so ungeheuer wichtig sein mochte, daß man sich bei diesem Unternehmen solche Mühe gab. Und wie die Male zuvor fand er auch diesmal keine Antwort darauf.

Morton betrat den Aufzug, nickte dem Boy abwesend zu und deutete auf den Boden. Der Boy war gar kein Liftboy, sondern ein Geheimagent der US-Regierung, der sich nur in die rotgelbe Fantasieuniform gezwängt hatte; auch die übrigen Gäste in diesem Stockwerk des Hilton waren keine echten Gäste. Browning hatte eine ganze Armee aufgeboten, um alles abzuschirmen.

Der Aufzug fuhr, ohne anzuhalten, bis zum Erdgeschoß durch, und Morton verließ die Kabine und trat in die Lobby hinaus. Ganz automatisch glitt sein Blick über die Ansammlung kleiner Tische, Plüschsofas und Sessel, die in nur scheinbar chaotischer Anordnung in dem großen Raum standen, bis er Loben, von Ludolf und die beiden Dänen an einem Tisch gleich neben der Tür erblickte. Die vier Männer verstanden sich erstaunlich gut, wenn man bedachte, aus welch gegensätzlichen ideologischen Lagern sie stammten — aber warum, zum Teufel, mußten sie ihre Unterhaltungen immer hier unten führen? Sie hatten ein ganzes Stockwerk des Hilton zur Verfügung. Komplett: mit mehr als einem Dutzend Zimmern, einem Konferenzsaal und einer eigenen Bar. Browning würde vor Wut schäumen, wenn er sie hier entdeckte.

Morton steuerte automatisch auf die vier Männer zu, machte dann mitten im Schritt kehrt und ging zum Empfang.»Schon irgendeine Nachricht von — «

«Nein, Sir«, unterbrach ihn der Empfangschef, noch ehe er seinen Satz zu Ende bringen konnte.»Dr. Jones hat nicht angerufen. Aber Dr. Browing läßt Ihnen ausrichten, daß er zum Bahnhof gefahren ist, um nach ihm zu suchen.«

Er blickte Morton noch einen Moment mit unbewegtem Gesicht an und wandte sich dann wieder der Frau zu, mit der er gesprochen hatte, bevor Morton sie unterbrach.»Es tut mir wirklich leid, gnädige Frau, aber der Manager besteht darauf, daß Sie Cassiopeia in Zukunft an der Leine führen.«

Morton wandte flüchtig den Blick, sah wieder weg und drehte sich noch einmal herum. Die Frau, die neben ihm stand und den Empfangschef aus Augen musterte, die dunkel vor Zorn waren, konnte man beim besten Willen nicht anders denn als aufgetakelte Matrone bezeichnen: Ihr Kleid mußte ebenso teuer gewesen sein, wie es geschmacklos war, und auf ihrem hochgesteckten Haar thronte ein Hut von der Größe eines Wagenrades, der bei jedem Wort, das sie sprach, heftig wippte und wackelte. Ihr Gesicht war so dick mit Schminke bedeckt, daß ihr Alter unmöglich zu schätzen war, aber Morton vermutete, daß sie die Fünfzig schon seit geraumer Zeit hinter sich gelassen hatte. In den Armen trug sie eine weiße Siamkatze, die den Empfangschef mit jenem unbeschreiblichen Hochmut musterte, zu dem nur Tiere dieser Rasse fähig sind.