«Wie bitte?«Jones zog überrascht die Augenbrauen hoch.
«Leider ist das die Wahrheit«, sagte Morton an Brownings Stelle.»Und das ist auch der Grund, warum die Doktoren Erikson und Bal-durson uns begleiten. «Er wies auf die beiden Dänen, die seine Worte mit einem zustimmenden Nicken kommentierten.»Sehen Sie, als wir Odinsland…«
«Odinsland!«
Morton lächelte flüchtig.»Ich habe mir die Freiheit genommen, den Eisberg so zu taufen«, sagte er.»Irgendeinen Namen muß er ja haben. Und nach dem, was wir dort gesehen haben, erschien er mir passend. «Er räusperte sich, warf Browning einen raschen, beinahe entschuldigenden Blick zu und fuhr fort:»Nachdem wir also Odinsland verlassen haben, ist er natürlich nicht einfach dort geblieben. Wir haben gewisse Berechnungen angestellt, aber gerade in dieser Meeresgegend sind uns die Strömungsverhältnisse nicht genau bekannt. Davon abgesehen, daß ein Eisberg von dieser Größe sich manchmal wirklich unberechenbar verhält. Es kann sein, daß er wieder aufs offene Meer hinaus getrieben ist, es kann aber auch sein, daß er sich Grönland nähert.«
Jones nickte.»Ich verstehe. Und damit dänischen Hoheitsgewässern.«
«Ja. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum Ihre Kollegen uns begleiten. «Morton registrierte Brownings warnende Blicke und räusperte sich mehrmals, um ein wenig Zeit zu gewinnen.
«Und die Herren Admiräle?«fragte Jones spöttisch und mit einem Blick auf die beiden Deutschen.
«Major«, korrigierte ihn von Ludolf kalt.»Major reicht vollkommen, Dr. Jones.«
«Wir haben einen Mann auf Odinsland gefunden«, sagte Morton rasch.»Offensichtlich den Überlebenden eines Schiffsuntergangs. Er ist deutscher Staatsbürger. Er war Mitglied einer wissenschaftlichen Expedition, die vor neun Monaten nördlich von Grönland verschollen ist.«
«Worum ging es dabei?«fragte Jones.
«Das wissen wir nicht«, gestand Morton. Jones sah von Ludolf fragend an, aber der Major lächelte nur kalt und schwieg.
«Dr. van Hesling und die anderen sind aufgebrochen, um die Strömungsverhältnisse im Arktischen Meer zu untersuchen«, sagte Browning in diesem Moment.»Aber wir glauben, daß sie etwas ganz anderes gefunden haben.«
«Dasselbe wie Sie?«fragte Jones, an Morton gewandt.
«O nein«, sagte Morton hastig — eine Spur zu hastig, wie er selber bemerkte.»Wir haben auf Odinsland nur Dr. van Hesling gefunden und die Überreste seines Zeltes sowie eine Funkanlage und ein paar…«Er zögerte einen winzigen Moment.»Artefakte.«
«Artefakte?«wiederholte Jones stirnrunzelnd.»Was genau meinen Sie damit?«
«Wenn wir das wüßten, brauchten wir Sie nicht«, sagte Browning unfreundlich.
Jones blickte ihn eine Sekunde lang vorwurfsvoll an, antwortete aber nicht, sondern wandte sich an die beiden Deutschen.»Darf ich fragen, welche Rolle Sie bei dieser Expedition spielen?«
«Sie dürfen«, antwortete von Ludolf kalt.»Professor van Hesling war im Auftrag des Deutschen Reichs unterwegs, wie Sie wissen. In einer rein wissenschaftlichen, friedlichen Mission. Aber er war nicht allein. Das Deutsche Reich kümmert sich um seine Bürger. Wenn es noch Spuren der anderen Vermißten gibt, dann möchten wir sie gerne finden.«
«Die Reichsregierung in Berlin hat uns bei der Identifizierung Dr. van Heslings geholfen«, sagte Browning.»Und selbstverständlich haben wir ihrer Bitte entsprochen, Major Loben und Major von Lu-dolf an der geplanten Expedition teilnehmen zu lassen.«
Daß das nicht ganz der Wahrheit entsprach, mußte jedem im Raum klar sein. Aber auch Indiana Jones schwieg dazu. Die Beziehungen zwischen der US-Regierung und dem Regime in Deutschland waren seit Jahren alles andere als gut; aber man versuchte immerhin noch den Schein zu wahren. Wahrscheinlich, überlegte Jones, war es Brownings Auftraggebern gar nicht lieb gewesen, daß die Deutschen von der geplanten Expedition erfahren hatten. Aber ihre Bitte um eine Teilnahme abzuschlagen wäre einer glatten Brüskierung gleichgekommen. Und das war im Moment etwas, woran niemandem gelegen war. Die Situation in Europa glich einem Pulverfaß, mit einer schon fast heruntergebrannten Lunte. Man mußte gewisse Rücksichten nehmen.
Aber die Anwesenheit der beiden Deutschen verriet Jones noch mehr: daß es sich nämlich bei dieser Expedition um alles andere als ein Routineunternehmen handeln mußte. Daß er mit dem Großdeutschen Reich und seinen Handlangern schon mehr als einmal aneinandergeraten war, mußte selbst Browning bekannt sein. Wenn er trotzdem auf seine Teilnahme bestand, dann, weil sie wichtig war.
Schließlich räusperte sich Jones in das unangenehm werdende Schweigen hinein und fragte:»Wann brechen wir auf?«
«Noch heute«, antwortete Browning.»Wir liegen schon ein paar Stunden hinter dem Zeitplan zurück. Eigentlich war unsere Abfahrt bereits vor Sonnenaufgang geplant. Es ist alles vorbereitet.«
Jones ignorierte den Vorwurf, der in diesen Worten mitschwang. Er stand auf.»Wenn das so ist, entschuldigen Sie mich, meine Herren«, sagte er.»Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, bevor wir — «
«Nein, das haben Sie nicht«, stellte Browning klar.»Es ist alles vorbereitet. In einer halben Stunde kommt ein Wagen und holt uns ab.«
«Das reicht vollkommen«, sagte Jones.
Aber Browning schüttelte den Kopf.»Ich muß darauf bestehen, daß keiner der Anwesenden diesen Raum hier verläßt, bevor wir aufbrechen«, betonte er.»Wir haben schon viel zuviel Aufsehen erregt.«
Jones starrte ihn an.»Was ist wirklich auf diesem Eisberg?«fragte er geradeheraus.»Der Stein der Weisen?«
«Das wissen wir nicht«, antwortete Browning ungerührt.»Und um allen Spekulationen endgültig einen Riegel vorzuschieben: Wahrscheinlich werden wir dort auch nichts anderes als ein paar alte Steine und Knochen finden. Aber ich habe keine Lust, von einer ganzen Meute neugieriger Journalisten und Abenteurer belagert zu werden. Sie vielleicht?«
Er gab sich jetzt nicht einmal mehr Mühe, überzeugend zu lügen. Und Jones gab sich keine Mühe mehr, seinen Ärger zu verhehlen.»Wissen Sie, Dr. Browning«, sagte er langsam,»ich glaube mittlerweile doch nicht mehr, daß es eine so gute Idee war, zuzusagen. Ich denke, es ist wirklich besser, wenn Quinn und ich — «
Vom Flur drang ein gellender Schrei ins Zimmer, und Jones verstummte mitten im Wort. Dann fuhr er herum und war mit zwei, drei Schritten zur Tür hinaus. Morton und die anderen folgten ihm.
Als sie auf den Gang hinausstürzten, erklang der gellende Schrei erneut; fast in der gleichen Sekunde wurde die Tür zu van Heslings Zimmer aufgerissen, und Dr. Rosenfeld rannte heraus.
«Hilfe!« schrie sie. »Kommt schnell!«
Indiana Jones stürmte an ihr vorbei, sprengte die Zimmertür mit der Schulter vollends auf und blieb abrupt stehen.
Das Zimmer war leer. Aber es bot einen Anblick vollkommener Zerstörung. Fast alle Möbelstücke waren umgeworfen und zerschlagen, die Gardinen heruntergerissen und die Polster zerfetzt. Auf dem Boden lagen zerbrochenes Glas und Geschirr, und einer der Fensterflügel stand offen. Die Scheiben waren zersplittert. Im Winkel unter dem Fenster lag eine verkrümmte, stöhnende Gestalt. Der Mann, den Browning vor der Tür postiert hatte.
«Was ist passiert?«rief Jones.
«Van Hesling!«antwortete Dr. Rosenfeld.»Er ist — «
Jones hörte gar nicht mehr zu, sondern stürzte zum Fenster und beugte sich hinaus. Mit klopfendem Herzen starrte er in die Tiefe, darauf gefaßt, van Heslings zerschmetterten Körper fünfundzwanzig Stockwerke unter sich zu erblicken. Aber auf der Straße vor dem Hilton-Hotel bewegte sich nur der normale Verkehr. Kein Menschenauflauf. Keine quietschenden Reifen. Keine Schreie.