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Er drehte sich zu O’Shaugnessy um und sah seinen Ersten Offizier an, aber O’Shaugnessys Gesicht war wieder so ausdruckslos wie immer, und schließlich seufzte Morton tief und löste sich mit einer kraftlosen Bewegung von seinem Platz am Fenster.

«Ist das Beiboot bereit?«fragte er.

«Jawohl, Sir.«

«Dann lassen Sie uns gehen.«

Vom Wasser stiegen feuchte Schwaden auf, die sich wie eisiges Glas auf die Haut legten, und das Tuckern des kleinen Außenbordmotors wirkte sonderbar verloren in der weißen Unendlichkeit, durch die das Beiboot glitt.

Mortons Augen schmerzten. Obwohl er eine Sonnenbrille aufgesetzt hatte, war das vom Eis reflektierte Licht noch so grell, daß es ihm die Tränen in die Augen trieb, und seine Hände, die das Ruder hielten, waren trotz der dicken Handschuhe taub vor Kälte.

«Dort vorne!«

Paulsens Hand deutete nach links, auf einen Punkt vielleicht dreißig Schritte westlich des Zeltes.»Ich glaube, da sind Spuren. «

Morton blickte angestrengt in die angegebene Richtung, konnte aber außer glitzerndem, blendendem Weiß nichts erkennen und nahm schließlich die Sonnenbrille ab. Das Licht wurde noch greller und ließ seine Augen noch mehr tränen, aber er sah immer noch nichts. Trotzdem korrigierte er den Kurs des Bootes um eine Winzigkeit, so daß sie nun in gerader Linie auf die Stelle zufuhren, auf die Paulsen gedeutet hatte. Als sie noch fünfzig Yards vom Eisberg entfernt waren, nahm er Gas weg, zögerte noch einen Moment und schaltete den Motor schließlich ganz aus.

Nachdem das Tuckern des Dieselmotors verstummt war, wurde es beinahe unheimlich still. Das Beiboot wurde langsamer, glitt jedoch noch immer zielstrebig auf den flachen Eisstrand zu und erreichte ihn nach wenigen Augenblicken. Sein Rumpf fuhr scharrend über das Eis, das dicht unter der Wasseroberfläche lag, stieß gegen ein etwas größeres, verborgenes Hindernis und zitterte noch einmal, bevor das Boot völlig zum Stillstand kam.

Morton unterdrückte einen Fluch. Er hatte sich verschätzt. Das Boot war nicht auf den Strand hinaufgeglitten, wie er es beabsichtigt hatte, sondern gut zehn Yards davor zum Stillstand gekommen. Das Meer war an dieser Stelle nur noch etwa knietief, aber sie würden trotzdem durch das eiskalte Wasser waten müssen, und das bei Temperaturen, die ihnen schon fast die Tränen auf dem Gesicht gefrieren ließen. Aber den Motor noch einmal zu starten und das Boot die letzten Meter auf den Strand hinaufzufahren, hätte bedeutet, seinen Fehler quasi vor den Männern zuzugeben, und aus irgendeinem Grund war ihm dies im Moment zuwider. Dabei gehörte Kapitän Morton normalerweise nicht zu den Vorgesetzten, die sich für unfehlbar hielten, und schon gar nicht zu denen, die von ihren Männern verlangten, ihnen das Gefühl zu geben, es zu sein. Aber was war hier schon normal?

Er stand auf, gab Paulsen und den beiden anderen Männern, die ihn begleiteten, ein Zeichen, dasselbe zu tun, und sah noch einmal zur POSEIDON zurück.

Das Schiff wirkte irgendwie… deplaziert. Als wäre dieser eisige, schweigende Gigant, der aus den kalten Meeren des Nordens hierhergetrieben war, Teil einer anderen Welt, in der Menschen und ihre technischen Errungenschaften nichts zu suchen hatten.

Der Gedanke verwirrte Morton. Es war jetzt das zweite Mal, daß ihm solche sonderbaren Gedanken durch den Kopf schossen, und das war wirklich ungewöhnlich, denn Kapitän Morton gehörte nicht zu den Menschen, die zum Philosophieren neigten, und schon gar nicht in einer Situation wie dieser. Andernfalls wäre er niemals Kapitän eines Forschungsschiffes wie der POSEIDON geworden.

Er wurde sich der Tatsache bewußt, daß Paulsen und die beiden anderen ihn anstarrten, verscheuchte seine Gedanken mit einem ärgerlichen Schulterzucken und sprang über Bord, ohne noch eine Sekunde zu zögern.

Das Wasser war nicht nur eisig, wie er erwartet hatte — es war mörderisch. Obwohl er wie alle anderen Gummistiefel und wasserdichte Überhosen angezogen hatte, drang die Kälte fast augenblicklich durch seine Kleidung und berührte seine Haut wie glühendes Eisen. Morton biß die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken, suchte auf dem glatten Untergrund aus Eis nach festem Halt und griff gleichzeitig nach dem zusammengerollten Tau, das im Bug des Beibootes lag. Ohne auf Paulsen oder die beiden anderen zu warten, watete er auf den Strand zu, wobei er das Tau hinter sich herzog. Das Boot bewegte sich nur unwillig. Es war schwerer, als er erwartet hatte, sehr viel schwerer, und als er sich umdrehte, erkannte er auch, warum das so war: Nur Paulsen war seinem Beispiel gefolgt und watete durch das Wasser, die beiden anderen standen reglos im Bug des kleinen Beibootes und blickten ihm und dem Maat unschlüssig nach.

Normalerweise hätte dieser Zwischenfall Morton höchstens geärgert. Jetzt erfüllte ihn der Anblick der beiden bewegungslos verharrenden Matrosen mit Wut, mit einem Zorn, der dem glich, den er in Pularskis und für einen kurzen Moment sogar in O’Shaugnessys Augen gesehen hatte. Er mußte sich mit aller Kraft beherrschen, um die beiden nicht anzubrüllen oder gleich das Tau fallen zu lassen, um zurückzurennen, damit er sie mit bloßen Händen packen und aus dem Boot zerren konnte. Er…

Morton atmete gezwungen tief und ruhig ein, schloß die Augen und zählte in Gedanken bis fünf. Was war nur mit ihm los?

Statt des Wutausbruchs, den — zumindest seinem Blick nach zu urteilen — auch Paulsen erwartet hatte, drehte er sich wortlos herum, ergriff das Tau fester und zerrte das Boot mit seinen beiden Passagieren allein so weit den Strand hinauf, bis er sicher war, daß es nicht von einer Welle ergriffen und davongespült werden konnte. Erst dann ließ er das Tau fallen, drehte sich um und ging bis zur Wasserlinie zurück. Die beiden Matrosen blickten ihm trotzig entgegen, sagten kein Wort, und auch Morton verbiß sich jeden Kommentar und wiederholte nur seine auffordernde Geste.

Diesmal reagierten die beiden sofort. Stenton hob das Tau auf und schlug einen Haken ins Eis, um es daran festzumachen, während sich Coleman Paulsen und ihm anschloß. Von den Spuren, die Paulsen vom Wasser aus entdeckt haben wollte, war übrigens nichts zu sehen, aber daran verschwendete Morton nur einen einzigen Gedanken. Je näher sie dem Zelt kamen, desto weniger glaubte er ohnehin, daß sie Überlebende finden würden.

Seinem Aussehen nach zu schließen, mußte es schon lange hier stehen, sehr lange. Die Stangen waren schief und verbogen und an zwei Stellen durchgebrochen, und überall lagen achtlos zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände herum: zerfetzte Kleider, ein Stück eines blauen Marineschlafsacks, leere Konservendosen, eine zerrissene Seekarte. Jetzt, als sie näher kamen, konnte Morton erkennen, daß das sonderbare Gebilde daneben tatsächlich eine improvisierte Funkantenne war. Irgend jemand hatte aus einigen Zeltstangen und gewickeltem Draht ein Dreibein zusammengebastelt, auf dessen Spitze die offensichtlich mit Gewalt abgebrochene Antenne eines tragbaren Funkgerätes befestigt war. Von dem Gerät selbst fehlte jede Spur, wie auch vom Bewohner dieses Zeltes. Der Strand war so glatt, als wäre er sorgsam poliert worden.

Trotzdem bewegte sich Morton mit äußerster Vorsicht, als er sich dem Zelt weiter näherte. Es war nicht das erste Mal, daß er einen Schiffbrüchigen auflas, der tage- oder gar wochenlang auf die Rettung gewartet hatte. Solche Leute waren manchmal unberechenbar. Hunger, Angst und Verzweiflung ließen einen Mann manchmal vergessen, daß die, die kamen, nicht seine Feinde waren, sondern seine Lebensretter.

Aber das Zelt war leer. Sein Inneres bot einen noch chaotischeren Anblick als der Boden ringsum: Was einmal eine Zelteinrichtung gewesen war, bestand jetzt nur noch aus Trümmern. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, alles, aber auch wirklich alles, zu zerschlagen, zerreißen, zerschneiden und kurz und klein zu hacken. Zerrissene Seekarten, zerfetzte Bücher, zerschnittene Kleider und die herausgerissene Daunenfüllung eines Schlafsacks bildeten ein wahres Tohuwabohu, in dem die dunklen, häßlich eingetrockneten Flecken im ersten Moment gar nicht auffielen.