Und Morton bemerkte sie auch erst, als er das Messer sah.
Es war ein wirklich beeindruckendes Messer. Die Klinge war gut zwanzig Zentimeter lang, auf der einen Seite so scharf wie ein Rasiermesser geschliffen, auf der anderen Seite wie eine Säge gezackt. Sie steckte fast zur Hälfte im Boden des Zeltes, der aus Eis bestand; die andere Hälfte und ein Teil des Griffes waren über und über mit Blut beschmiert. Morton versuchte sich vorzustellen, welche Kraft nötig war, um ein Messer so tief ins Eis zu treiben, aber seine Phantasie reichte dazu nicht aus.
«Großer Gott«, stammelte Paulsen hinter ihm.»Was ist denn hier passiert?«
Morton zuckte nur stumm mit den Schultern. Ihm war nicht wohl dabei, daß Paulsen und die beiden anderen das Messer sahen — und die Blutflecken. Die Männer waren nicht dumm. Sie wußten so wenig wie er, was hier passiert war, aber sie konnten deutlich sehen, daß hier etwas passiert war. Und sie waren nervös genug.
«Ich weiß es nicht«, sagte er und richtete sich auf.»Trotzdem — seid vorsichtig.«
Er trat einen Schritt zur Seite, damit sich sein Umriß deutlicher vom weißen Eis abhob und man ihn von Bord der POSEIDON aus erkennen konnte, hob beide Arme und winkte zum Schiff hinüber. Einen Moment später antwortete eine der winzigen Gestalten auf dem Vorderdeck mit der gleichen Geste.
«Okay«, sagte Morton.»Coleman, Sie bleiben hier und halten Verbindung mit dem Schiff. Paulsen, Stenton und Sie kommen mit!«
«Wohin?«fragte Paulsen.
Morton reagierte nicht. Er hätte eine Menge drum gegeben, die Antwort auf diese Frage zu wissen. Der Eisberg war einerseits so abweisend und feindselig, daß es ihm unvorstellbar schien, daß irgend jemand länger als ein oder zwei Tage in dieser Umgebung überleben konnte. Und andererseits war er groß genug, um einer ganzen Armee Versteck bieten zu können. Wenn sie den Mann, der den Hilferuf aufgegeben hatte — oder seine Leiche — nicht auf Anhieb fanden, blieb ihnen nichts anderes übrig, als diesen ganzen verdammten schwimmenden Klotz Meter für Meter abzusuchen. Und das wäre schon unter normalen Umständen eine Arbeit für Tage, wenn nicht Wochen gewesen. Bei der gespannten Stimmung, die an Bord der POSEIDON herrschte, der Kälte und dem Kurs, dem der schwimmende Eisberg folgte, war es schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Aber Morton wußte auch, daß man ihm Fragen stellen würde, sollte er es einfach dabei belassen, die Überreste des Zeltes und der Funkanlage einzusammeln und wieder abzufahren. Sehr unangenehme Fragen, auf die er keine Antwort hatte.
«Da drüben scheint es eine Stelle zu geben, an der man hochklettern kann«, sagte Stenton und deutete nach Westen. Morton beschattete die Augen mit der Hand und sah in die angegebene Richtung. Auch hier bildeten die Eiswände des Berges eine hohe, schier un-überwindbare Mauer, die den Eisstrand an drei Seiten umschloß. Aber Stenton hatte recht: Es gab einen schmalen, dreieckigen Spalt, fast wie ein Paß, der zur Oberseite des Berges hinaufführte. Dorthin zu kommen würde zwar eine halsbrecherische Kletterei bedeuten, aber es war immerhin möglich.»Okay«, seufzte Morton.»Versuchen können wir es ja.«
Sie brauchten allein zehn Minuten, um den Spalt zu erreichen, denn der Boden stieg immer steiler an, und er war glatt wie Glas, so daß sie trotz der gerippten Sohlen ihrer Gummistiefel mehr als einmal ausglitten und ein Stück zurückschlitterten. Und aus der Nähe betrachtet, wirkte ein Aufstieg im Eis nicht halb so einladend wie von weitem.
«Unmöglich«, sagte Paulsen überzeugt.»Niemand kann da raufkommen.«
Stenton nickte bekräftigend. Morton schwieg. Paulsen wußte so gut wie er, daß es durchaus möglich war, dort hinaufzukommen. Und er mußte so gut wie er die Spuren gesehen haben. Die Spuren schwerer, grobsohliger Stiefel und die kleinen, ausgezackten Löcher, wo jemand Haken ins Eis geschlagen und hinterher wieder entfernt hatte.
Ohne ein weiteres Wort wagte Morton einen Schritt, dann noch einen und noch einen, wobei er sich mit beiden Händen an den nahezu senkrechten Wänden des Spaltes abstützte, um überhaupt von der Stelle zu kommen. Erst dann merkte er, daß die beiden anderen ihm nicht folgten. Ärgerlich blieb er stehen und drehte sich um.»Worauf wartet ihr?«
Paulsen zögerte noch einen Moment, ehe er ihm folgte. Stenton rührte sich nicht von der Stelle.
Wieder spürte Morton diese plötzliche, jähe Wut, die er kaum noch zügeln konnte.»Was ist mit Ihnen, Matrose?«fragte er scharf.»Soll ich Ihnen den Befehl schriftlich geben?«
«Ich gehe da nicht rauf«, antwortete Stenton.
«Wie bitte?«
Stenton schürzte trotzig die Lippen und wich seinem Blick aus. Aber er rührte sich nicht von der Stelle.»Ich gehe da nicht rauf«, wiederholte er.»Das ist doch Selbstmord. Ich habe keine Lust, mir den Hals zu brechen.«
Morton schluckte die wütende Antwort, die ihm auf den Lippen lag.
«Gut«, sagte er kalt.»Dann bleiben Sie, wo Sie sind, Matrose. Aber wir unterhalten uns später darüber. «Er deutete mit einer Kopfbewegung zur POSEIDON hinüber.»An Bord.«
«Meinetwegen«, antwortete Stenton verstockt.»Immer noch besser, als mit gebrochenen Knochen hier zu verrecken.«
Morton sog scharf und hörbar die Luft ein, verzichtete aber auch diesmal darauf, Stenton anzubrüllen, sondern drehte sich mit einem Ruck herum und ging weiter. Die Wut, die heiß und fast unbezwingbar in ihm brodelte, half ihm, die ersten zehn, fünfzehn Meter des Aufstiegs mühelos hinter sich zu bringen. Aber der Weg stieg immer steiler an, und Paulsen und er hatten noch nicht einmal die Hälfte geschafft, als es einfach nicht mehr weiterging. Es sei denn, sie hätten sich auf Händen und Knien bewegt und wären den Rest des Weges gekrochen.
Schwer atmend blieb er stehen, suchte mit der linken Hand Halt an der Wand und wandte sich an Paulsen.»Das hat keinen Sinn. Stenton hat recht. Es ist Selbstmord, ohne entsprechende Ausrüstung hier hochsteigen zu wollen.«
Er überlegte einen Moment, dann deutete er abermals auf die POSEIDON, die jetzt Meilen entfernt schien.
«Nehmen Sie Stenton und fahren Sie mit ihm zurück zum Schiff«, sagte er.»O’Shaugnessy soll sich um ihn kümmern. Und dann kommen Sie mit einem anderen Mann, einigen Seilen und Haken wieder. Und beeilen Sie sich. Ich habe keine Lust, länger als nötig — «
Er sah die Bewegung aus den Augenwinkeln, aber sein Schreckensschrei kam zu spät. Ein Eisbrocken von der Größe eines Kinderkopfes flog wie ein Geschoß auf Paulsen zu, verfehlte seine Schläfe um Haaresbreite und traf mit fürchterlicher Wucht seine Schulter. Paul-sen trug wie er eine dicke, pelzgefütterte Jacke, so daß ihn der Eisbrocken nicht verletzte. Aber die Wucht des Aufpralls war groß genug, ihn aus seinem ohnehin unsicheren Gleichgewicht zu bringen. Er schrie auf, griff mit wild rudernden Armen um sich und stürzte nach hinten. Seine Hände suchten verzweifelt nach Halt, aber auf dem spiegelglatten Boden hatte er nicht die Spur einer Chance. Schreiend und immer schneller werdend, schlitterte er den Weg zurück, den sie sich mühsam hinaufgekämpft hatten, prallte irgendwo auf halber Strecke gegen ein Hindernis und überschlug sich drei-, vier-, fünfmal hintereinander, bevor er wie ein lebendes Geschoß auf den Eisstrand hinausfegte und sich mit rasender Geschwindigkeit dem Wasser näherte. Morton sah, wie Stenton und auch Coleman plötzlich in Bewegung kamen und auf ihn zurannten, aber natürlich kamen sie zu spät. Paulsen schlitterte hilflos und noch immer gellend um Hilfe schreiend an ihnen vorbei und versank im Wasser. Mit einer verzweifelten Bewegung richtete er sich wieder auf und machte einen einzelnen, taumelnden Schritt. Dann blieb er stehen, brach im Zeitlupentempo abermals in die Knie und stürzte ein zweites Mal. Und diesmal blieb er liegen, obwohl sich sein Gesicht unter Wasser befand.
«Holt ihn raus!«schrie Morton, so laut er nur konnte. Gleichzeitig rannte er los.