Der Scherz mißlang kläglich. So absurd die Vorstellung im ersten Moment auch schien, ließ sie Indiana doch innerlich schaudern. Und auch Mabel sah den Regierungsbeauftragten eher erschrocken als belustigt an.
Indiana zuckte hilflos mit den Schultern. Für eine Weile sagte er gar nichts, sondern blickte nur versonnen auf Major von Ludolf hinab, der mit an den Körper gezogenen Knien in einer Ecke des Zeltes saß und ins Leere starrte, dann wandte er sich an Morton.
«Eines gibt mir zu denken«, meinte er.»Ich frage mich, was Erich gemeint haben könnte, als er sagte, er sei nicht sicher, ob Professor van Hesling wirklich den Verstand verloren habe.«
«Wie meinen Sie das?«fragte Morton.
«Bitte erinnern Sie sich, Kapitän«, erwiderte Indiana eindringlich.»Ich weiß es nicht mehr genau, aber da war irgend etwas, was Sie über van Hesling gesagt haben. Irgendeine Bemerkung…«
«Er ist auf uns losgegangen wie ein Wahnsinniger«, sagte Morton.
Indiana schüttelte den Kopf.»Nein. Das waren nicht Ihre Worte. Sie haben gesagt, wie… wie ein Berserker.«
Morton nickte.
«Großer Gott!«flüsterte Indiana entsetzt.»Was war ich doch für ein Idiot! Genau das ist es!«
Nicht nur Morton, sondern auch alle anderen sahen ihn fragend an.
«Begreift ihr denn nicht?«fuhr Indiana fort.»Denn ganz genau das war er! Er war nicht verrückt. Jedenfalls nicht nur. Er… er hat dieses Schiff verteidigt!«
«Er hat was?« fragte Browning.
«Morton hat es doch selbst gesagt!«antwortete Indiana erregt.»Er hat wie ein Berserker gekämpft! Ganz genau das waren seine Worte!«
«Das stimmt«, gab Browning zu,»aber ich verstehe nicht ganz, was das mit diesen Deutschen zu tun — «
«Das ist die Erklärung!«Indiana schrie fast.»Begreifen Sie doch! Genau das ist es, was sie wollen! Browning, jedes Kind kennt die Berserker-Sage! Van Hesling hat mit der Kraft eines Wahnsinnigen gekämpft! Er war fast unverwundbar, und er schien keinerlei Schmerz zu spüren! Das wollen sie! Die alten Legenden sind wahr! Es hat die Berserker gegeben, und es kann sie wieder geben! Und dieses Schiff hat die Macht, sie zu erschaffen!«
Browning erbleichte.»O mein Gott!«flüsterte er.»Sie glauben, Hitler will in Wahrheit — «
«Eine Armee unbesiegbarer Krieger aufstellen. Ja!«knurrte Indiana grimmig und sah wieder von Ludolf an. Aber der Wehrmachtsoffizier wirkte so entsetzt und ungläubig wie alle anderen.
«Er will die Macht, die alten Berserker wieder zum Leben zu erwecken. Ein Heer fast unverwundbarer Soldaten, die ohne Rücksicht auf sich selbst kämpfen.«
«Aber das ist doch Irrsinn!«sagte Mabel.»Wir haben doch alle gesehen, was mit van Hesling passiert ist. Er war ein geistiges Wrack, als alles vorüber war.«
«Und? Glaubst du, daß das diesen Wahnsinnigen stört?«
Mabels Augen wurden groß vor Entsetzen, und auch Browning rang hörbar nach Luft, als ihn die Erkenntnis, daß Indiana recht hatte, mit voller Wucht traf. Und vielleicht sah er in diesem Moment vor seinem geistigen Auge das gleiche wie Indiana: Legionen schier unverwundbarer, unbesiegbarer menschlicher Kampfmaschinen, die Europa überrollten und auch vor seinen Grenzen nicht haltmachen würden.
«Wir müssen dieses Ding zerstören«, sagte Bates, der als einziger bisher schweigend zugehört hatte.
«Eine grandiose Idee«, erwiderte Browning.»Warum gehen Sie nicht los und fangen schon mal an?«
«Das ist gar nicht nötig«, mischte Morton sich ein.»Es wird uns so oder so alle vernichten.«
«Unsinn!«rief Browning zornig. Er wandte sich wieder an Indiana.»Es war richtig von Ihnen, Erichs Angebot anzunehmen, Doktor Jones. Wir müssen diesen Wahnsinnigen daran hindern, sich des Schiffes zu bemächtigen. Ganz egal, wie.«
«Das ist es ja gerade, was mir Sorge macht«, entgegnete Indiana.»Ich weiß nicht, wie.«
«Es muß eine Möglichkeit geben«, beharrte Browning.»Ich weiß, es klingt hart, aber wenn es sein muß, dann müssen Sie eben Ihr eigenes Leben und auch das Dr. Rosenfelds opfern, um es zu schaffen. Ich würde keine Sekunde zögern, das gleiche zu tun.«
«Darum geht es nicht«, hielt Indiana entgegen.»Ich bin nicht sicher, daß man dieses Schiff überhaupt zerstören kann.«
«Natürlich kann man das«, widersprach Browning heftig.»Alles kann zerstört werden.«
Indiana blickte ihn lange und sehr niedergeschlagen an, ehe er beinahe im Flüsterton erwiderte:»Alles, was Menschen geschaffen haben, können Menschen auch zerstören, Dr. Browning. Aber wie zerstört man etwas, das ein Gott erschaffen hat?«
Zwei Stunden später wurden sie wieder abgeholt. Die Arbeiten am Kraterrand hatten sichtbare Fortschritte gemacht: Aus dem unfertigen Holz- und Metallgerüst war ein gut fünf Meter hohes Dreibein geworden, in dem an einem komplizierten Gewirr aus Tauen und Rädern ein metallener Korb hing, groß genug, um drei oder vier Menschen aufzunehmen. Während sich Indiana und Mabel dem Krater näherten, begannen zwei von Erichs Soldaten, eine große Winde zu bedienen, und der Korb verschwand schwankend und mit zwei Soldaten besetzt in der Tiefe des Eiskraters. Als Indiana dies sah, schritt er schneller aus, um zu Erich zu gelangen, der neben dem Dreibein stand und dem Herabsinken des Korbes gebannt nachblickte.
«Sind Sie wahnsinnig geworden?«begann er übergangslos. Er gestikulierte heftig in die Tiefe. Der Korb senkte sich mit beängstigender Geschwindigkeit in den Schacht hinab.»Die Männer dürfen das Schiff auf keinen Fall betreten!«
Erich maß ihn mit einem fast verächtlichen Blick.»Das werden sie auch nicht«, entgegnete er.»Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich bin auf jeden Fall nicht so wahnsinnig, Sie und Dr. Rosenfeld ohne entsprechende Bewachung und noch dazu als erste an Bord dieses Schiffes gehen zu lassen.«
Indiana preßte wütend die Lippen aufeinander und beugte sich vor. Der Korb hatte bereits die halbe Strecke nach unten hinter sich gebracht, aber man sah jetzt, daß er nicht direkt auf das Wikingerschiff zielte, sondern auf eine schmale, grob dreieckig geformte Eisfläche, die unmittelbar daneben wie eine glitzernde Zunge aus der Schachtwand hervorwuchs.
«Beruhigen Sie sich wieder, Dr. Jones«, sagte Erich spöttisch hinter ihm.»Ich kann Ihren Forscherdrang ja verstehen, aber die Ehre, als erster einen Fuß auf dieses Schiff zu setzen, kann ich Ihnen doch nicht überlassen. Aber Sie werden der zweite sein, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Mit dem nächsten Korb fahren Sie und ich hinunter. Und selbstverständlich auch Ihre entzückende Begleiterin«, fügte er mit einer angedeuteten spöttischen Verbeugung in Mabels Richtung hinzu.
Indiana bemerkte das Blitzen in Mabels Blick und signalisierte ihr hastig, nichts Unbedachtes zu tun oder zu sagen.
Gebannt verfolgten sie, wie der Drahtkorb weiter in die Tiefe glitt und nach wenigen Minuten auf der Eiszunge aufsetzte. Die beiden Soldaten kletterten hinaus, und Erich gab den Männern an der Winde einen Wink, den Korb wieder heraufzuziehen.
Die Zeit schien stehenzubleiben. Der Korb brauchte nur wenig mehr als zwei Minuten, um wieder zu ihnen hinaufzukommen, aber für Indiana vergingen Ewigkeiten. Seine Gedanken überschlugen sich. Sein Herz begann rasend schnell zu hämmern, und seine Handflächen wurden feucht vor Aufregung. Er war nervös.
Auf der einen Seite wünschte er sich nichts sehnlicher, als dieses phantastische Schiff zu betreten und sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, ob es auch das war, wofür sie alle es hielten.
Und gleichzeitig hatte er vor nichts auf der Welt mehr Angst, als genau davor.
Etwas Entsetzliches würde geschehen, wenn er es tat, das wußte er. Etwas Furchtbares, Drohendes und ungeheuer Altes umgab das schwarze Wikingerschiff. Es wirkte, als wäre es in einen Mantel aus geronnener Furcht gehüllt.