Hinter Mabels Stirn schienen sich ähnliche Überlegungen zu vollziehen, denn auch sie war bleich und zitterte vor Erregung, als sie in den kleinen Drahtkorb kletterte und sich mit beiden Händen festhielt. Die Winde begann knarrend zu arbeiten, dann hob sich der Korb ein wenig, schwenkte zur Seite — und unter ihnen war kein Boden mehr. Ganz langsam begannen sie in die Tiefe zu sinken.
«Ich begreife das nicht«, sagte Mabel, als sie ungefähr die halbe Strecke zurückgelegt hatten.»Diesen See dürfte es gar nicht geben. Seine Oberfläche liegt etliche hundert Meter unter dem Wasserspiegel.«
Erich schüttelte den Kopf.»Er ist nicht mit dem Meer verbunden, vermute ich«, meinte er.»Ich glaube, es ist einfach eine Höhle, die irgendwann voll Wasser gelaufen ist.«
Ja, dachte Indiana, oder es ist ein See, den es bisher noch gar nicht gegeben hat. Odinsland schmolz. Vielleicht war dieses Schiff über all die Jahrhunderte hinweg völlig im Eis eingeschlossen gewesen, und der See, auf dem es nun schwamm, war nur das Wasser, in das sich das Eis nun zurückzuverwandeln begann. Und wenn diese Vermutung zutraf, dann gab es noch eine weitere Gefahr, von der sie bisher nichts geahnt hatten: Odinsland war groß, aber es war nicht endlos. Irgendwann würde das Eis bis zum Meer hindurch weggeschmolzen sein — und dann würde sich dieser Schacht in eine Todesfalle verwandeln, die sich innerhalb weniger Sekunden mit Wasser füllte.
Er verscheuchte den Gedanken und beugte sich neugierig vor, um das Schiff zu betrachten.
Es bot einen unheimlichen Anblick. Obwohl man ihm sein ungeheures Alter deutlich ansah, wirkte es nicht im geringsten Maß verfallen. Das riesige rotweiß gestreifte Segel sah aus, als wäre es erst vor wenigen Tagen aufgezogen worden, nicht vor einem Jahrtausend. Der Rumpf war von tief schwarzer, matter Farbe, und er war nicht glatt, sondern mit zahllosen Sprüngen, Rissen, Erhebungen, Kanten und Vorsprängen übersät, als bestünde er gar nicht aus Holz, sondern aus lebendem Material. Die runden Metallschilde, die beiderseits der Reling aufgestellt worden waren, waren mit phantasievollen Mustern bemalt, und auch die Farbe wirkte so frisch und unversehrt, als wäre sie gestern aufgetragen worden. Selbst als sie weiter in die Tiefe glitten und Einzelheiten zu erkennen waren, konnte Indiana nicht genau sagen, was die Muster auf diesen Schilden darstellten. Sie erinnerten an germanische Runen, waren gleichzeitig aber auch völlig anders, und irgendwie schienen sie… sich in ständiger Bewegung zu befinden. Fast als versuchten sie, sich den Blicken der Menschen zu entziehen, als wären sie nicht für sie geschaffen. Zwischen diesen zwei Dutzend runden Schilden ragte dieselbe Anzahl armstarker schwarzer Ruder hervor. Aber auch sie waren keine wirklichen Ruder, sondern sahen nur wie Ruder aus; wenn Indiana seiner Phantasie Spielraum ließ, erinnerte ihn ihr Anblick eher an schwarzglänzende Insektenbeine, die es dem Schiff ermöglichten, über das Wasser zu laufen.
Es kostete ihn alle Mühe, die entsetzliche Vorstellung zu verdrängen, aber ganz gelang es ihm nicht. Irgendwie war dieses ganze gewaltige Schiff lebendig. Und etwas unsagbar Entsetzliches, Böses umgab es.
Der Korb setzte mit einem sanften Ruck auf, und Erich schwang sich als erster ins Freie. Rasch trat er einen Schritt zurück, damit die beiden Soldaten, die auf sie warteten, ihre Waffen in Anschlag bringen konnten, um Indiana und Mabel in Schach zu halten, und machte erst dann eine auffordernde Geste. Hintereinander kletterten sie aus dem Korb, und Erich hob die Hand und winkte den Männern oben an der Winde zu. Das bizarre Gefährt verschwand wieder über ihnen, um weitere Männer zu holen.
Schaudernd blickte Indiana das Schiff an. Sie waren ihm jetzt ganz nah — zwischen der dreieckigen Eiszunge und dem Rumpf des riesenhaften Schiffs befand sich nur noch ein knapp halbmeterbreiter Spalt. Und erst jetzt, als sie direkt neben ihm standen, erkannte Indiana, wie riesenhaft dieses Schiff wirklich war. Es mußte mindestens fünfmal so groß sein wie jedes andere Wikingerschiff, das er jemals gesehen hatte. Und es war nicht einfach nur ein großes Schiff; seine Proportionen stimmten nicht. Wenn er die Schilde und Ruder und die Höhe der Bordwand als Vergleichsmaßstab nahm, dann schien es für Riesen gemacht zu sein.
«Sagenhaft!«flüsterte Erich neben ihm. Der Blick des Deutschen hing gebannt an den schwarzen Flanken des Nagelfahr, und seine Hände zitterten. Indiana hatte ihn niemals so erregt gesehen wie in diesem Moment. Er schien sich nur noch mit Mühe zurückhalten zu können, um nicht einfach den letzten Schritt zu tun und an Bord des Schiffs zu gehen.
«Was ist das?«fragte Mabel. Sie deutete auf die schwarzen Flanken des Schiffes.»Das ist doch kein Holz!«
Indiana beugte sich vor, so weit er es wagen konnte. Mabel hatte recht: Was von oben wie schwarzes, verkrustetes Holz ausgesehen hatte, war keines. Erneut fiel ihm der Vergleich ein, den er gerade selbst gezogen hatte, und jetzt wußte er auch, warum er auf diese Idee gekommen war. Die Flanken des Schiffs bestanden nicht aus Holz. Sie waren aus Millionen und Abermillionen winziger schwarzer Splitter zusammengesetzt, keiner davon größer als ein Fingernagel.
Und ganz genau das waren sie auch.
«Das ist Horn«, stellte er fest.
Mabel blickte ihn irritiert an, während Erich nur lächelte. Er schien nicht im mindesten überrascht zu sein.
«Horn?«vergewisserte sich Mabel.
«Das Schiff Nagelfahr«, sagte Indiana leise.»Ich bin jetzt sicher, das ist es. Die Legende sagt, es ist aus den Finger- und Zehennägeln toter Krieger erschaffen worden. Daher der Name.«
Mabel verzog angeekelt das Gesicht, schwieg aber, und Erich riß sich endlich von dem eindrucksvollen Anblick des Götterschiffs los, machte einen Schritt rückwärts und gab Indiana und Mabel mit einer Geste zu verstehen, daß sie neben ihn treten sollten. Einer seiner Soldaten folgte ihrer Bewegung mit dem Lauf seiner Maschinenpistole.
Erich deutete mit einer Handbewegung auf den anderen.»Gehen Sie an Bord!«befahl er.
Der Soldat wurde blaß. Er zögerte. Voller Angst blickte er Erich an, dann — und mit deutlich mehr Angst — das gigantische Wikingerschiff, und er wollte etwas sagen, aber Erich fuhr ihn barsch an:»Haben Sie nicht verstanden, Soldat?«
Der grobe Ton wirkte. Der Soldat zögerte noch eine einzige Sekunde, dann drehte er sich widerstrebend um, hängte sich die Waffe über die Schulter und streckte vorsichtig die Arme aus.
Indiana hielt instinktiv den Atem an, als die Hände des Mannes das Schiff berührten. Aber nichts geschah. Zwei oder drei Sekunden lang stand der deutsche Soldat einfach nur reglos da, als warte er darauf, daß die Erde sich öffne und ihn verschlänge, dann atmete er hörbar erleichtert auf und schwang sich mit einer entschlossenen Bewegung in das Schiff. Wieder blieb er einen Augenblick stehen und sah sich angstvoll um, dann atmete er ein zweites Mal auf und drehte sich zu ihnen herum.»Alles in Ordnung«, sagte er.»Ich — «
Irgend etwas geschah. Indiana spürte es, eine Sekunde, bevor es wirklich geschah, und auch Mabel schlug mit einem erschrockenen kleinen Schrei die Hand vor den Mund. Keiner von ihnen konnte sehen, was wirklich passierte. Aber plötzlich erstarrte der Soldat mitten in der Bewegung, versuchte sich aufzurichten — und wurde von etwas Unsichtbarem, entsetzlich Starkem getroffen und wie ein Spielzeug in die Luft gewirbelt. Er begann zu schreien, aber sein Schrei brach sofort wie erstickt ab, während sein Körper, bereits tot, von einer unsichtbaren Riesenfaust zermalmt, in hohem Bogen vom Deck des Nagelfahr heruntergeschleudert wurde und im See verschwand.
Mabel schrie ein zweites Mal auf, schlug die Hände vor das Gesicht und warf sich mit einem Schluchzen gegen Indianas Brust, während Erich und der zweite Soldat entsetzt zurückwichen. Der Soldat löste eine Hand von seiner Waffe und schlug das Kreuzzeichen vor der Brust, als Erich das Schiff mit mehr Interesse als wirklichem Schrecken betrachtete und nach einem weiteren Moment mit den Schultern zuckte.