Mabel starrte ihn ungläubig an, und Indiana fügte erklärend hinzu:»Man hat schon Mammute aus der Steinzeit gefunden, die so perfekt tiefgekühlt waren, daß man ihr Fleisch noch essen konnte.«
Er wandte sich an Quinn.»Ich wußte, daß du es schaffen würdest, alter Junge«, grinste er.»Als ich deine Leiche nicht bei den anderen gesehen habe, war es mir klar.«
«Es war nur Glück«, entgegnete Quinn.»Als die Flugzeuge kamen, bin ich einfach losgerannt. Plötzlich brach der Boden ein, und ich fand mich hier wieder.«
Indiana sah sich suchend um.»Hier?«
Quinn machte eine vage Handbewegung rückwärts.»Irgendwo in einem Stollen. Dieser ganze Eisklotz ist hohl. Es gibt Hunderte dieser Gänge. Ich habe das Lager die ganze Nacht beobachtet, aber ich konnte nichts tun. Sie passen zu gut auf. Und es sind zu viele. Ich mußte auf eine günstige Gelegenheit warten.«
Indiana verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln.»Ja«, sagte er,»man kann dir einen gewissen Sinn für Dramatik nicht absprechen. Woher hast du die Kleidung und die Waffen?«
Quinn deutete auf die Toten.»Von ihnen. Sie brauchen sie nicht mehr. Ihr solltet euch auch Mäntel nehmen. Es ist verdammt kalt hier unten.«
Damit hatte er recht. Indiana fror erbärmlich, und auch Mabel zitterte vor Kälte. Ohne ein weiteres Wort bückte er sich zu einem der Wikinger herab, schälte ihn vorsichtig aus seinem Mantel und ging damit auf Mabel zu.»Hier, zieh das an.«
Mabel schüttelte den Kopf und wich entsetzt einen Schritt zurück.
«Niemals«, rief sie angeekelt.»Lieber erfriere ich.«
«Genau das wirst du«, knurrte Indiana ärgerlich.»Sei nicht albern!«
Mabel blickte ihn noch einen Moment lang trotzig an, aber dann bückte sie sich doch zu einer der erstarrten Gestalten hinab und begann sie aus ihrem Mantel zu schälen. Indiana sah sich in der Zwischenzeit etwas aufmerksamer in der Höhle um.
«Also so ist er an die Waffen gekommen«, murmelte er.
«Wen meinst du?«fragte Mabel.
«Van Hesling«, antwortete Indiana. Er deutete auf die Toten, dann auf Quinn.»Er muß diese Höhle ebenfalls gefunden haben. Er hat hier drinnen überlebt, nicht in diesem albernen Zelt.«
«Ja«, sagte Quinn.»Und ich kann dir sogar sagen, wie.«
Indiana sah ihn fragend an. Quinn deutete auf einen Leichnam, der ein Stück entfernt lag, und Indianas Augen wurden groß, als er ihn genau betrachtete. Mabel trat neben ihn, schlug entsetzt die Hand vor den Mund und wandte sich mit einem Ruck um.
«Oh«, flüsterte Indiana betroffen,»kein Wunder, daß der arme Kerl den Verstand verloren hat.«
Quinn zuckte gelassen mit den Achseln.»Was hättest du getan?«fragte er.»Die Lebensmittel in seinem Rettungsboot haben bestimmt nicht lange gereicht.«
«Könntet ihr… bitte… das Thema wechseln?«würgte Mabel mühsam hervor.
Indiana sah sie betroffen an, zuckte dann mit den Schultern und warf einen fragenden Blick auf den Eisbrocken vor dem Höhleneingang.»Kriegst du das Ding auch wieder weg?«fragte er.
Quinn grinste.»Kein Problem«, erwiderte er,»aber das ist nicht nötig. Es gibt einen zweiten Ausgang, dort hinten. Der Stollen ist nicht sehr hoch. Wir werden kriechen müssen. Aber er führt fast bis zum Strand. Ich war vorhin schon dort. Wenn wir warten, bis es dunkel wird, haben wir eine Chance.«
«Eine Chance? Wozu?«
«Unterseeboot«, erklärte Quinn.»Es liegt dort vor Anker. Ich glaube, sie haben nur ein paar Mann als Wache zurückgelassen.«
«Du meinst, wir sollten versuchen, es zu entern?«meinte Indiana.
Quinn nickte.»Was sonst?«
«Und die anderen im Stich lassen?«fragte Indiana. Er schüttelte den Kopf.»Das kommt nicht in Frage.«
«Willst du es ganz allein mit den Nazis aufnehmen?«fragte Quinn.
«Hast du eine bessere Idee?«
«Es sind fast vierzig Mann«, gab Quinn zu bedenken.»Und wir haben keine Waffen.«
«Nein?«fragte Indiana mit einem bezeichnenden Blick auf das Schwert an Quinns Seite.»Haben wir nicht?«
Quinn schürzte abfällig die Lippen.»Mach dich nicht lächerlich. Sie haben Maschinenpistolen.«
Indiana antwortete diesmal nicht gleich. Natürlich hatte Quinn völlig recht — daß er Erich und den Soldaten besiegt hatte, bedeutete überhaupt nichts. Er hatte den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite gehabt, und sie waren nur zu zweit gewesen. Das nächste Mal würden die Deutschen wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Und sie würden kaum so freundlich sein, einzeln zu ihnen zu kommen, um sich von Quinn und Indiana überrumpeln zu lassen.
Und trotzdem… Sie hatten gar keine andere Wahl. Weder er noch Quinn würden die anderen im Stich lassen, selbst wenn sie eine Chance gehabt hätten, das Unterseeboot zu kapern und damit davonzufahren, wie Quinn es vorgeschlagen hatte. Und außerdem war da noch das Schiff in dem Eiskrater, das darauf wartete, aus seinem eisigen Schlaf zu erwachen und damit vielleicht Gewalten freizusetzen, gegen die die Trompeten von Jericho wie der Schalmeienklang eines Friedensengels klingen mußten.
Sehr ernst sah er Mabel und Quinn an. Dann begann er, ihnen leise seinen Plan darzulegen.
Der Tag schien ein Ende zu nehmen. Quinn hatte sie tiefer in das Labyrinth aus Gängen und Stollen geführt, das das Innere Odinslands ausfüllte, bis sie in eine etwas kleinere Höhle gelangten, die weit genug vom See entfernt war, so daß nicht mehr die Gefahr bestand, von den Deutschen entdeckt zu werden, die garantiert einen Suchtrupp losschicken würden.
Indiana hatte Quinn und Mabel geraten, die verbliebene Zeit zu nutzen, um sich auszuruhen, aber wie üblich beherzigte er selbst seine Ratschläge am allerwenigsten. Er versuchte zwar, sich auf dem Eisboden auszustrecken und ein wenig zu schlafen, aber er war viel zu aufgeregt. Seine Gedanken drehten sich wie wild im Kreis, und hinzu kam, daß es grausam kalt war. Ungeachtet der Tatsache, daß Odinsland von innen heraus zu schmelzen begann, herrschten hier drinnen Temperaturen, die selbst das Atmen zur Qual machten. Indiana begriff immer weniger, wie es van Hesling gelungen war, an diesem Ort fünf Monate zu überleben. Er war sicher, daß er selbst keine fünf Tage durchhalten würde. Vielleicht nicht einmal einen.
Als es zu dämmern begann und der milchige Schein, der durch das Eis drang, allmählich blasser wurde, weckte er Mabel, die sich neben ihm in ihren Fellmantel gerollt und im Schlaf an ihn gekuschelt hatte. Sie fuhr erschrocken zusammen und blickte ihn eine Sekunde lang an, als wüßte sie gar nicht, wo sie war. Dann richtete sie sich auf, bemerkte erst jetzt, daß er den Arm um ihre Schultern gelegt hatte, und lächelte verlegen. Aber sie versuchte nicht, ihn abzustreifen.
Sie sprachen kaum ein Wort, während sie die Ausrüstung anlegten, die sie aus der Wikingerhöhle mitgebracht hatten. Obwohl der Plan von Indiana stammte, kam er sich ziemlich lächerlich dabei vor, sich in ein rostiges Kettenhemd zu hüllen, einen Wolfsfellmantel um seine Schultern zu legen und einen Hörnerhelm aufzusetzen, der ihm noch dazu um mindestens zwei Nummern zu groß war. Aber irgendwie erschien ihm diese Verkleidung dann auch wieder angemessen. Und das Schwert, das er sich schließlich um die Hüfte gurtete — so lächerlich es gegen die Maschinenpistolen und Kanonen der Deutschen sein mochte — beruhigte ihn irgendwie.
Als er fertig war, half er Mabel, ihre Rüstung anzulegen. Sie schien sich dabei ähnlich zu fühlen wie er, denn auch ihr Lächeln wirkte ein wenig gequält. Und sie zog im ersten Moment die Hand zurück, als er einen der großen Rundschilde aufhob und an ihrem rechten Arm befestigte. Das Ding wog fast einen halben Zentner, aber Mabel mußte stärker sein, als sie aussah, denn sie trug ihn ohne sichtbare Anstrengung.
«Du machst dich gut als Walküre«, sagte er spöttisch.
«Auf jeden Fall besser als du, du Thor«, gab Mabel freundlich zurück.
«Es sei denn, man entschließt sich, das Wort ohne ’h’ zu schreiben.«