Indiana lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. Ihr scherzhafter Ton hatte nur den Zweck, ihre Angst zu überspielen. Und damit stand sie nicht allein da. Auch ihm selbst schossen plötzlich hunderttausend Gründe auf einmal durch den Kopf, warum ihr Plan gar nicht aufgehen konnte, selbst wenn die Deutschen so dumm waren, auf diese Verkleidung hereinzufallen. Aber wenn man in einer Situation ist, in der man überhaupt keine andere Wahl hat, so dachte er, dann ist ein irrsinniger Plan vielleicht immer noch besser als gar keiner.
Der Tag verblaßte vollkommen, bis sie die Oberfläche erreichten — wie Quinn gesagt hatte, durch ein ausgezacktes Loch in der Decke eines Ganges, der genau unter dem ausgebrannten Wrack der Dragon lag.
Indiana war der erste, der umständlich ins Freie kletterte. Flach auf dem Bauch liegend, streckte er die Arme in die Tiefe und ergriff Ma-bels hochgereckte Hände. Mit Quinns Hilfe, der von unten kräftig schob, zog er sie durch das Loch zu sich herauf, dann halfen sie mit vereinten Kräften, auch Quinn an die Oberfläche zu hieven.
Aufmerksam sah Indiana sich um. In der Luft hing noch immer Brandgeruch, und das ausgeglühte Stahlgerippe der Dragon erhob sich wie das Skelett eines gestrandeten Wals über ihnen. Überall lagen Trümmer und verkohltes Holz herum, so daß sie aufpassen mußten, nirgendwo anzustoßen und kein verräterisches Geräusch zu machen. Aber die Nacht war sehr klar, und die Deutschen waren freundlich genug gewesen, einige kleine Feuer zu entzünden, so daß das Lager fast taghell erleuchtet war.
Indianas Vertrauen in seinen eigenen Plan sank noch weiter, als er sah, daß die deutschen Soldaten offensichtlich keinen Schlaf benötigten: Sie waren weniger als hundert Meter vom Lager entfernt, und er konnte deutlich beobachten, daß sich überall weißgekleidete Gestalten bewegten. Stimmen drangen zu ihnen, und vom Rand des Kraters, von dem sie nun fast wieder eine Meile entfernt waren, wehte ein helles, rhythmisches Hämmern und Klingen heran.
«Sie bauen irgend etwas«, flüsterte Mabel.
Indiana nickte und legte gleichzeitig warnend den Zeigefinger über die Lippen, obwohl im Lager der Deutschen soviel Lärm herrschte, daß sie wohl kaum gehört werden konnten. Mißtrauisch spähte er zu den Soldaten hinüber, die zwischen den beiden Wellblechhütten und dem einzigen stehengebliebenen Zelt hin und her hetzten. Irgend etwas an ihren Bewegungen war nicht normal. Er wußte nicht, was es war, aber er spürte, daß dort etwas vor sich ging.
Und auch Mabel schien es zu merken.»Da stimmt was nicht«, sagte sie leise.»Da muß… was passiert sein.«
Indiana sah genauer hin, und jetzt erkannte er, daß die Soldaten nicht einfach ziellos durch die Gegend liefen. Einige standen herum und unterhielten sich heftig gestikulierend miteinander, andere rannten wie gehetzt über das Eis, und jetzt hörte er auch Schreie. Und dann, wie auf ein Stichwort, begannen zwei der Männer plötzlich aufeinander einzuschlagen. Das Schreien und Rufen wurde lauter, und von überall rannten Soldaten herbei, um die beiden Streitenden auseinanderzutreiben.
«Was, zum Teufel, tun die da?«wunderte sich Quinn.
«Sie… streiken«, sagte Indiana verwirrt.»Aber weshalb?«
«Ich glaube nicht, daß sie einen Grund brauchen«, antwortete Ma-bel. Indiana warf ihr einen fragenden Blick zu, und sie fuhr fort:»Denk dran, was Morton erzählt hat. Und an die Stimmung, die auf der Dragon herrschte.«
Indiana nickte.»Und später, unter unseren eigenen Leuten«, sagte er.»Verdammt, ich glaube fast, Morton hatte recht. Dieser Berg macht alle wahnsinnig.«
«Aber wieso wirkt er dann nicht auf uns?«wunderte sich Mabel.
Indiana sah sie überrascht an. Auf ihn wirkte der böse Zauber Odinslands durchaus. Er hatte nicht vergessen, wie schwer es ihm gefallen war, sich zu beherrschen. Und auch Quinn erging es nicht anders. Die Art und Weise, wie er Erich und den deutschen Soldaten angegriffen hatte, war nur noch mit purer Raserei zu beschreiben gewesen.
Im Lager der Deutschen entstand immer mehr Aufregung. Es war den Männern nicht gelungen, die beiden Kämpfer voneinander zu trennen, ganz im Gegenteiclass="underline" Plötzlich waren es nicht mehr zwei, sondern drei, dann vier, fünf und schließlich sechs Männer, die wie besessen aufeinander einschlugen, und die übrigen machten keinen Versuch mehr, sie zu trennen, sondern bildeten einen weit auseinandergezogenen Kreis, der die Kämpfenden mit beifälligem Geschrei anfeuerte.
«Das ist unsere Chance«, flüsterte Indiana aufgeregt.»Vielleicht haben wir diese ganze Verkleidung jetzt nicht mehr nötig.«
Er deutete mit der rechten Hand auf die Wellblechbaracke, in der sich die Gefangenen befanden, dann mit der linken auf das Zelt. Auch der Mann, der davor Wache gestanden hatte, hatte sich von seinem Posten entfernt und eilte auf den Kampfplatz zu.»Quinn! Versuche, die Männer rauszuholen. Mabel und ich kümmern uns um Browning und die anderen.«
Er huschte los, noch ehe Quinn antworten konnte. Geduckt rannten Mabel und er über das Eis, näherten sich dem Lager und schlugen einen großen Bogen nach links, um möglichst weit weg vom Feuerschein zu bleiben. Ihre dunkle Kleidung ließ sie in der Nacht beinahe unsichtbar werden, und Indiana hoffte, daß das Geschehen im Zentrum des Lagers die ganze Aufmerksamkeit der Deutschen beanspruchte. Im Moment sah es zumindest nicht so aus, als würde der Kampf aufhören. Ganz im Gegenteil, das Schreien und Brüllen wurde immer lauter.
Unbehelligt erreichten sie das Zelt und hielten noch einmal an. Indiana sah sich mit klopfendem Herzen um. Seine Hand legte sich auf den Schwertgriff an seiner Seite, ohne daß es ihm bewußt wurde, dann wurde ihm klar, wie lächerlich diese Bewegung war, und er zog die Finger beinahe hastig wieder zurück.
«Okay«, flüsterte er.»Du wartest hier. Paß auf, daß uns niemand überrascht.«
Er schlich weiter, erreichte das Zelt und riß die Plane mit einem Ruck auf.
Drinnen brannte eine winzige Gaslampe, die trübes gelbes Licht verbreitete. Bates, Morton und, zu Indianas Überraschung, auch Major von Ludolf lagen zusammengerollt auf dem Boden und schliefen, während Browning mit nach vorne gesunkenen Schultern dahockte und ins Leere starrte. Dann weiteten sich seine Augen in ungläubiger Überraschung, als er Indiana erkannte.
«Dr. Jones!«keuchte er.»Was — «
Indiana machte eine hastige Bewegung, aber Brownings Ausruf hatte die anderen geweckt. Bates blinzelte, riß die Augen auf und starrte ihn mit offenem Mund an, während Morton plötzlich wie irre zu lachen begann. Einzig Major von Ludolf bewahrte seine Fassung. Auch er sah Indiana überrascht an, reagierte aber ansonsten mit fast unnatürlicher Gelassenheit.
«Keinen Laut mehr!«sagte Indiana warnend.»Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Wir müssen weg.«
Er griff unter den Mantel, zog den Bronzedolch hervor, den er einem der toten Wikinger abgenommen hatte, und säbelte heftig an Mortons Handfesseln herum.
«Wo, um Gottes Willen, kommen Sie her?«fragte Browning.»Obersturmbannführer Erich hat uns gesagt, Sie seien tot.«
«Und was soll diese Verkleidung?«fügte Bates hinzu.
Indiana hatte Brownings Fesseln durchtrennt und huschte geduckt zu Bates hinüber.»Seid endlich still«, warnte er.»Der Posten ist abgelenkt, aber ich weiß nicht, wieviel Zeit uns bleibt. Ich erkläre euch später alles.«
Er hatte auch Bates’ Fesseln durchtrennt und wollte sich Morton zuwenden, als draußen vor dem Zelt ein Schuß krachte. Für eine Sekunde erstarrten sie alle vor Schreck. Indiana wandte mit einem Ruck den Kopf und sah zum Ausgang, aber fast im selben Augenblick erschien Mabels Gesicht unter der Zeltplane, wie das seine von einem gewaltigen Wikingerhelm gekrönt, was Brownings Gesichtszüge vollkommen entgleisen ließ.
«Alles in Ordnung«, sagte sie hastig.»Aber beeilt euch. Hier bricht gleich die Hölle los.«
Indiana beugte sich über Morton, durchtrennte mit einem kraftvollen Schnitt auch seine Hand- und Fußfesseln und drehte sich wieder herum. Sein Blick streifte von Ludolf, und eine Sekunde lang zögerte er.