Sein Angriff überrumpelte den Eskimo vollkommen. Indianas Faust traf Quinn am Kinn und ließ ihn zurückstolpern, aber der hünenhafte Eskimo überwand seine Überraschung fast sofort. Als Indiana zum zweitenmal zuschlagen wollte, ergriff er blitzschnell seine Hand und hielt sie fest, streckte den Arm aus und packte auch sein anderes Handgelenk. Indiana versuchte, nach ihm zu treten, aber Quinn fegte seine Füße mit einer fast lässigen Bewegung beiseite und riß gleichzeitig die Arme hoch, so daß Indiana plötzlich fünf Zentimeter über dem Boden hing, hilflos mit den Beinen strampelnd und schreiend vor Wut.
Quinn schüttelte ein paarmal den Kopf, nahm Indianas Handgelenke in eine einzige seiner gewaltigen Pranken — und versetzte ihm mit der anderen eine Ohrfeige, die ihm beinahe das Bewußtsein raubte.
Aber der Schmerz riß ihn auch in die Wirklichkeit zurück. Als sich die flimmernden Sterne und Kreise vor seinen Augen verzogen, konnte er wieder halbwegs klar denken. Er spürte noch immer Zorn, eine rasende Wut, die sich nicht gegen Quinn im besonderen, sondern gegen jedes Lebewesen richtete; aber er war jetzt zumindest in der Lage, sie halbwegs zu beherrschen und im Zaum zu halten.
«Wieder in Ordnung?«fragte Quinn mißtrauisch.
Indiana nickte.»Danke«, murmelte er. Das Sprechen bereitete ihm Mühe. Quinn hatte so hart zugeschlagen, daß sein halbes Gesicht gelähmt zu sein schien.
Vorsichtig ließ der Eskimo ihn zu Boden sinken, lockerte seinen Griff und trat hastig einen Schritt zurück, um gegen einen neuerlichen Angriff gewappnet zu sein.
Indiana hob stöhnend die Hand ans Gesicht, betastete seine brennende Wange und sah gleichzeitig zur Tür.
In den wenigen Augenblicken, die vergangen waren, hatte sich das Bild draußen drastisch verändert. Die deutschen Soldaten hatten aufgehört, sich gegenseitig umzubringen, und konzentrierten statt dessen ihr Feuer auf die ausgebrochenen Gefangenen; aber die Raserei, in die sie verfallen waren, machte sie wohl gleichzeitig auch blind vor Wut, denn nur die allerwenigsten Schüsse trafen. Der Großteil der Navy-Soldaten hatte mittlerweile die zweite Wellblechhütte erreicht, und genau in diesem Moment brach einer von ihnen das Schloß einfach heraus und verschwand mit einem gellenden Schrei im Inneren. Eine Sekunde später fielen auch in der Hütte Schüsse, und plötzlich torkelte der Soldat rücklings wieder aus der Tür heraus: blutüberströmt und von mehreren Kugeln getroffen. Aber er stürzte nicht, sondern blieb nur einen Moment schwankend stehen und rannte dann wieder ins Innere der Wellblechbaracke.
Auch zwischen den übrigen Navy-Soldaten und den Deutschen brachen jetzt überall Handgemenge aus. Die Nazis schienen aus irgendeinem Grund vergessen zu haben, daß sie mit Schuß- und Stichwaffen und sogar Handgranaten ausgerüstet waren, denn sie feuerten jetzt kaum noch, sondern stürzten sich mit bloßen Händen auf ihre Gegner, so daß es zu Dutzenden von Handgemengen gleichzeitig kam.
Obwohl Indiana kaum eine Sekunde daran verschwendete, den an zahlreichen Stellen tobenden Kampf zu beobachten, bemerkte er doch, daß sie mit einer Wut aufeinander losgingen, die kaum noch etwas Menschliches hatte. Das war Mortons Berserker-Effekt, diese rücksichtslose Raserei, von der er erzählt und die Indiana selbst einmal an van Hesling und ein zweites Mal an seinem Freund Quinn beobachtet hatte.
Und auch in ihm weckte schon der Anblick des verbissenen Kampfes wieder die gleiche rasende Wut, die er jede Sekunde weniger zu beherrschen imstande war.
«Los! Versuchen wir es!«
Sie rannten aus der Hütte und wandten sich nach links, dem Wrack der Dragon zu. Hinter ihnen brach eine regelrechte Schlacht zwischen den Nazis und den Marinesoldaten aus, bei der, zumindest im Moment, keine der beiden Seiten eindeutig die Oberhand zu haben schien, obwohl die Deutschen den Amerikanern zahlenmäßig fast um das Doppelte überlegen waren. Aber vielleicht wirkte der unheimliche Einfluß auf die Marinesoldaten stärker, einfach weil sie ihm schon viel länger ausgesetzt waren. Möglicherweise aber war es auch nur die Überraschung, die die Deutschen noch lähmte.
Sie rannten geduckt und so schnell sie konnten; aber trotzdem der Kampf hinter ihnen an Heftigkeit immer mehr zunahm und ihre dunklen Mäntel sie zusätzlich tarnten, wurden sie doch entdeckt, kaum daß sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten. Eine schnurgerade Linie mannshoher Schnee- und Eisexplosionen raste in irrsinnigem Tempo auf sie zu, als einer der Deutschen mit einer Maschinenpistole auf sie schoß. Indiana warf sich mit einer verzweifelten Bewegung zur Seite, rollte haltlos über das Eis und prallte schmerzhaft gegen irgend etwas Hartes. Es war eine der ausgeglühten Stahlstreben der Dragon. Hastig richtete er sich auf, sah sich nach Quinn um und registrierte erleichtert, daß auch der Eskimo unverletzt geblieben war. Das MP-Feuer hatte aufgehört. Offensichtlich hatte der Schütze sein Interesse an ihnen verloren, oder er hatte ein lohnenderes Ziel gefunden.
Quinn rannte geduckt auf ihn zu, riß ihn ohne ein weiteres Wort in die Höhe und versetzte ihm einen Stoß, der ihn noch tiefer ins Wrack des Luftschiffs hineinstolpern ließ. Rings um sie herum wimmelte es von Menschen, die im Augenblick der gleichen Beschäftigung nachgingen wie die deutschen und amerikanischen Soldaten oben auf dem Eis: Sie schlugen mit verbissener Wut aufeinander ein.
Und nicht nur sie. Der Berserker-Effekt beschränkte sich keineswegs auf die Soldaten im Lager. Auch Browning und von Ludolf wälzten sich aneinandergeklammert und knurrend wie Tiere über das Eis und droschen wild aufeinander ein, und Mabel stand, das Wikingerschwert gezogen und mit beiden Händen haltend, ein paar Schritte abseits und sah sich mit einem Blick um, den Indiana nicht völlig einordnen konnte. Hatte sie nun Angst, oder hielt sie einfach nach einem Opfer Ausschau, das sie niederschlagen konnte…
Kurz darauf sprang Quinn zu ihnen in die Eishöhle herab, und er bereinigte jetzt die Situation auf seine ganz persönliche Art und Weise: Blitzschnell packte er Morton und Bates mit jeweils einer Hand, schlug sie mit den Köpfen aneinander und ließ sie los. Morton fiel stocksteif um, während Bates stöhnend auf die Knie sank und die Hände vor das Gesicht schlug. Quinn fuhr herum, pflückte Dr. Browning mit der linken und von Ludolf mit der rechten Hand vom Boden, hielt sie einen Moment fest und begann sie dann zu schütteln.
In der Zwischenzeit rappelte sich auch Indiana hoch und machte einen Schritt in Mabels Richtung. Das Schwert in ihrer Hand bewegte sich, so daß die Spitze nun genau auf Indiana deutete, und auch Indianas Hand kroch zum Gürtel und griff nach dem Wikingerschwert, das darin steckte.
«Nein«, flüsterte er mühsam. Schweiß bedeckte seine Stirn. Seine Hände zitterten, und die Wut und der Blutdurst in ihm wurden immer schlimmer. Mabels Gesicht begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Er konnte nicht mehr denken, er spürte nur noch Haß, wollte nichts anderes als zerstören und töten.
Mabel hob das Schwert, und auch in ihren Augen flammte es auf.
«Bitte… tu das… nicht«, stöhnte Indiana. Selbst das Sprechen fiel ihm schwer. Irgend etwas Dunkles, Formloses und ungeheuer Starkes schien aus seiner Seele emporzukriechen und sein bewußtes Denken mehr und mehr auszuschalten.
«Kämpfe… dagegen an«, flüsterte er stockend.»Du mußt es… besiegen.«
Aber auch ihm fiel es immer schwerer, der tobenden Wut tief unter seinen Gedanken standzuhalten. Minutenlang, wie es schien, standen sie sich einfach gegenüber, zwei Menschen, die Freunde waren und sich vielleicht sogar liebten und die doch im Moment nichts lieber wollten, als sich gegenseitig zu töten.
Aber diesmal gewann er den Kampf noch. Langsam, fast widerwillig, zog sich das böse dunkle Etwas wieder in die finsteren Winkel seiner Seele zurück, aus der es hervorgekrochen war. Es verschwand nicht völlig. Indiana spürte, daß es noch da war, vielleicht die ganze Zeit, sein ganzes Leben über dagewesen war, wie eine schwarze, widerwärtige Spinne, die in ihrem Versteck lauert und auf eine Unaufmerksamkeit wartet, um hervorzukriechen und seinen Verstand zu überwältigen. Und er war nicht sicher, ob er sie noch einmal besiegen konnte.