Auch in Mabels Blick machte sich plötzlich Bestürzung breit. Sie sah auf das Schwert in ihren Händen herab, erbleichte plötzlich und ließ die Waffe fast angeekelt fallen. Dann sprang sie mit einem Satz auf ihn zu und warf sich an seine Brust. Indiana wartete darauf, daß sie zu weinen beginnen würde, aber sie sagte kein Wort, sondern hielt ihn einfach nur fest, wenn auch mit solcher Kraft, daß er kaum noch Luft bekam.
Als er sich zu Quinn herumdrehte, war auch das mörderische Lodern in den Augen der anderen erloschen. Bates hockte immer noch am Boden und hielt sich den Kopf, aber Kapitän Morton hatte sich wieder erhoben; und auch auf Brownings und von Ludolfs Gesichtern machte sich ein bestürzter, beinahe entsetzter Ausdruck breit.
«Was… was war das?«stammelte der deutsche Offizier.
«Das, wonach Ihr Kamerad Erich sucht«, antwortete Indiana zornig.»Die Macht, die er entfesseln will.«
Von Ludolf starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an.»Was wollen Sie damit sagen?«
«Das erkläre ich Ihnen später«, entgegnete Indiana ausweichend und fügte hinzu:»Was tun Sie überhaupt hier?«
«Er hat darauf bestanden mitzukommen«, sagte Mabel.»Er meinte, Erich würde ihn umbringen, wenn wir ihn zurückließen.«
«Na wunderbar«, knurrte Indiana.»Was glauben Sie, was er mit Ihnen tun wird, wenn er Sie bei uns erwischt?«
Er schwieg einen Moment, dann schob er Mabel mit sanfter Gewalt von sich und sah ihr ins Gesicht.»Glaubst du, daß du den Weg zur Wikingerhöhle zurückfindest?«fragte er. Mabel nickte, aber es wirkte nicht sehr überzeugt.»Warum?«
«Quinn und ich müssen noch einmal zurück ins Lager«, sagte er.
«Aber wozu denn?«
«Wir müssen noch einmal in diese Baracke«, antwortete Indiana. Er wandte sich an Quinn.»Erinnerst du dich, was der Soldat gesagt hat? Sie haben die Waffen aus der Dragon in der zweiten Hütte verstaut.«
Quinn nickte.
«Und was haben Sie vor?«fragte Browning mißtrauisch.»Wollen Sie die Deutschen angreifen, zwei Mann hoch?«
«Nein«, antwortete Indiana grimmig.»Ich will versuchen, ein wenig Dynamit zu stehlen. Ich werde dieses verdammte Schiff der Götter in die Luft jagen.«
Der Kampf im Lager tobte mit unverminderter Heftigkeit weiter, aber das Schießen hatte beinahe aufgehört. Vielmehr war aus der ungleichen Auseinandersetzung ein wütendes Handgemenge geworden, bei dem jeder gegen jeden zu kämpfen schien: Deutsche kämpften gegen Amerikaner, Amerikaner gegen Deutsche, Amerikaner gegen Amerikaner und Deutsche gegen Deutsche; was Indiana und Quinn in den wenigen Minuten sahen, die sie brauchten, um um das Lager zu schleichen und sich den beiden Wellblechhütten von der Rückseite her zu nähern, das überzeugte sie endgültig davon, daß die unheimliche Ausstrahlung des Schiffs nicht einfach nur aus den Männern unbesiegbare Kampfmaschinen machte, sondern ihnen auch den Verstand raubte. Es ging in diesem Kampf längst nicht mehr darum, daß irgendeine Seite die Oberhand gewann. Es war einfach eine tobende Explosion von Gewalt, die nur ein einziges Ziel kannte: zerstören. Ganz egal, was oder wen oder warum. Immerhin waren die Deutschen genug mit sich selbst und ihren Gegnern beschäftigt, um von den beiden Gestalten, die sich im Schutz der Dunkelheit der halbrunden Wellblechhütte näherten, keinerlei Notiz zu nehmen. Indiana schlich sich geduckt an die aufgebrochene Tür der Hütte heran, während Quinn das Lager im Auge behielt, aber weder von dort noch aus dem Inneren des kleinen Gebäudes drohte Gefahr. Indiana warf noch einen raschen sichernden Blick in die Runde, huschte dann mit einer schnellen Bewegung durch die Tür und winkte Quinn, ihm zu folgen. Das Innere des Wellblechgebäudes stellte eine Mischung aus Schlafraum, Funkzentrale und Lager dar. Etwa fünfundzwanzig schmale Metallpritschen drängten sich neben- und übereinander an einer der Wände, daneben war auf einem kleinen Tischchen eine komplizierte — und ziemlich demolierte — Funkanlage aufgebaut. Irgend jemand hatte eine Axt genommen und sie damit endgültig ausgeschaltet. Die Einzelteile waren überall in der Baracke verstreut. Auf der anderen Seite des Raums stand ein großer Tisch, der mit Landkarten und Schriftstücken übersät war, ein deutscher Soldat war tot darüber zusammengesunken. Im hinteren Drittel des Gebäudes schließlich fanden sie, wonach sie suchten:
Bis unter die Decke stapelten sich Kartons und Kisten, die zum Großteil mit deutscher, zum Teil aber auch mit amerikanischer Beschriftung versehen waren. Offensichtlich handelte es sich um Dinge, die Erichs Soldaten aus dem Wrack der Dragon geborgen hatten, denn viele der Kisten waren angesengt.
Indiana gab Quinn mit einer Geste zu verstehen, daß er an der Tür zurückbleiben und aufpassen sollte, und nahm dann wahllos eine der Kisten vom Stapel herunter. Mit Hilfe seines Wikingerschwerts brach er den Deckel auf, und diesmal hatte er auf Anhieb Glück: Unter dem angeschmorten Holz kam eine grün gestrichene Metallkiste zum Vorschein, und als er diese öffnete, fiel sein Blick auf über hundert Handgranaten, die säuberlich aufgereiht nebeneinander auf einer Schaumgummiunterlage ruhten. Indiana nahm zwei, drei Handgranaten heraus, stopfte sie hastig in die Taschen seines Fellmantels und überlegte es sich dann anders. Vorsichtig legte er die Granaten zurück, ließ die Schlösser des Metallkastens zuschnappen und nahm die ganze Kiste an sich. Sie war überraschend schwer. Aber die Sprengkraft dieser hundert Granaten mußte ausreichen, das riesige Wikingerschiff zu zerfetzen.
Er hörte, wie Quinn irgend etwas rief, achtete aber nicht weiter darauf, sondern stellte die Kiste zu Boden und sah sich suchend um. Nach ein paar Augenblicken entdeckte er, was er brauchte: eine etwas größere, ebenfalls angesengte Holzkiste, deren Beschriftung ihm verriet, daß sie Maschinenpistolen enthielt. Er erbrach auch ihren Deckel, nahm vier der kurzläufigen Gewehre heraus und hängte sie sich hintereinander über die Schultern. Hastig stopfte er sich die Taschen mit Magazinen voll, drehte sich — wankend unter seiner Last — herum, um nach der Kiste zu greifen -
— und erstarrte mitten in der Bewegung.
Quinn war nicht mehr allein. Indiana begriff plötzlich, daß er sich vielleicht doch besser umgedreht hätte, als der Eskimo ihm etwas zuschrie, aber diese Einsicht kam ein wenig zu spät. Der schwarzhaarige Riese stand mit erhobenen Armen und steinernem Gesicht an der Wand neben der Tür, in Schach gehalten von drei weißgekleideten deutschen Soldaten, deren Maschinenpistolen drohend auf seine Brust und sein Gesicht gerichtet waren. Drei weitere Soldaten standen auf der anderen Seite der Tür, und auch sie hatten die Waffen im Anschlag. Aber deren Mündungen zielten nicht auf Quinn, sondern auf Indiana. Und unter der Tür stand Erich, in eine zerfetzte, verdreckte Uniform gekleidet, Haare und Augenbrauen voller Eis und Rauhreif.
«Guten Abend, Dr. Jones«, sagte er spöttisch.
Indiana schwieg. Seine Gedanken rasten. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß die Männer auf ihn schießen würden, wenn Erich auch nur eine entsprechende Bewegung mit dem kleinen Finger machte. Aber seine Lage war vielleicht nicht ganz so aussichtslos, wie es im ersten Moment schien.
«Es freut mich, daß wir uns doch noch einmal wiedersehen, Dr. Jones«, fuhr Erich fort.»Wenn Sie jetzt vielleicht die Güte hätten, die Waffen zu Boden zu legen und die Arme zu heben…?«
Indiana tat keines von beiden.»Warum schießen Sie nicht?«fragte er kalt. Dann deutete er mit dem Daumen über die Schulter zurück.»Aber Sie sollten sicher sein, daß Ihre Leute auch treffen. Da hinten liegt genug Sprengstoff, um diese ganze Insel in die Luft zu jagen.«
Es war ein Bluff, und natürlich funktionierte er nicht. Erich sah ihn nur eine Sekunde lang abschätzend an, dann wandte er sich an die Männer, die Quinn in Schach hielten.»Zerschießt ihm die Kniescheiben«, sagte er.»Zuerst die rechte, dann die linke. Aber paßt auf, daß ihr ihn nicht umbringt.«