Der Soldat befreite sich mühsam aus Erichs Griff, stolperte einen halben Schritt zurück und hob unsicher seine Waffe.
«Tun Sie das nicht, Soldat«, sagte von Ludolf. Er sprach ganz ruhig. Er hob nicht einmal die Stimme, aber vielleicht war es gerade das, was den Soldaten abermals zögern ließ. Erich hatte geschrien, sich wie hysterisch gebärdet, aber diese Männer waren es gewohnt, ihre Befehle in ruhigem, sachlichem Ton zu bekommen.
Die Maschinenpistole in der Hand des Soldaten zitterte. Für einen Augenblick richtete sich ihr Lauf noch einmal auf von Ludolfs Oberkörper, dann senkte er sich, und der Soldat schüttelte wortlos den Kopf und trat drei Schritte zurück.
«Ich enthebe Sie hiermit Ihres Kommandos, Herr Obersturmbannführer«, sagte von Ludolf ruhig.»Es ist offensichtlich, daß Sie nicht mehr Herr Ihrer Sinne sind.«
Erich keuchte vor Wut, wirbelte herum und war mit einem Satz bei einem anderen Soldaten. Er versuchte, ihm die Waffe zu entreißen, aber der Mann schlug seine Hand herunter und brachte sich mit einem hastigen Schritt in Sicherheit.
«Geben Sie endlich auf, Erich«, sagte von Ludolf ruhig.»Sie haben verloren. Begreifen Sie das doch.«
Erich knurrte wie ein wildes Tier. Sein Blick flackerte, und seine Fäuste schlossen und öffneten sich ununterbrochen, eine Bewegung, die er gar nicht wahrzunehmen schien.
«Legt die Waffen nieder!«sagte von Ludolf. Die Worte galten nicht nur den Männern in Erichs unmittelbarer Nähe, die Indiana und die anderen bedrohten, sondern allen hier. Ein paar Sekunden lang schien überhaupt nichts zu passieren, aber dann senkte der erste Soldat seine Maschinenpistole, dann ein zweiter, ein dritter — und schließlich ließen alle Männer ihre Waffen sinken; nicht nur das Exekutionskommando, sondern jeder, der von Ludolfs Worte gehört hatte.
Erich heulte wie ein geprügelter Hund, trat einen Schritt auf von Ludolf zu und blieb wieder stehen. Sein Gesicht loderte vor Zorn. Schaum trat vor seinen Mund, und irgend etwas geschah in seinen Augen, das Indiana schaudern ließ. Es war nicht nur der Blick eines Wahnsinnigen, es war…
Nein, er konnte nicht in Worte fassen, was es war. Es war wie das Wirken einer göttlichen Macht, dessen Zeugen sie wurden. Aber wenn, so war es ein finsterer, zerstörerischer Gott. Eine Macht, die aus uralten, vergessenen Zeiten auferstanden war und nie wieder leben durfte.
«Geben Sie auf, Erich«, sagte von Ludolf ruhig.»Die Männer werden Ihnen nicht mehr gehorchen. Weder jetzt noch später.«
«Dafür werden Sie bezahlen!«heulte Erich.»Sie Verräter! Ich werde persönlich dafür sorgen, daß Sie vor Gericht gestellt und hingerichtet werden!«
«Das glaube ich nicht«, sagte von Ludolf ruhig.»Niemand hier will das. Schauen Sie sich um.«
Er machte eine weit ausholende Geste mit der linken Hand, die das ausgeglühte Luftschiffwrack, das zerstörte Lager, die brennenden Baracken und die gesamte Insel einschloß.»Schauen Sie sich um, und fragen Sie sich, mit welchen Mächten wir uns eingelassen haben. Es gibt Dinge, an die niemand rühren darf, Erich. Sie würden uns allen den Tod bringen. Nicht nur unseren Feinden, sondern auch uns.«
Sekundenlang starrte Erich ihn einfach nur an, als begriffe er tatsächlich, was von Ludolf gesagt hatte. Abermals flackerte sein Blick, und Erschrecken trat in seine Augen und löste das Lodern des Wahnsinns darin ab.
Aber nur für kurze Zeit. Dann verwandelte sein Blick sich wieder in den eines Wahnsinnigen, und seine Stimme wurde zu einem schrillen, sich überschlagenden Heulen:
«Sie Hund! Sie verdammter, volksverräterischer Feigling!«kreischte er. Plötzlich fuhr er herum, entriß einem der Soldaten in seiner Nähe die Waffe und legte damit auf Indiana und die anderen an.
«Dann tue ich es eben selbst«, schrie er.
Von Ludolf schoß ihm in den Rücken.
Er zog die Hand nicht einmal aus der Tasche, sondern drückte ohne Warnung ab. Eine fingerlange orangerote Feuerzunge brach aus seiner Uniform, und eine Sekunde später taumelte Erich wie von einem Faustschlag getroffen nach vorn, ließ die MP fallen und brach mit einem Keuchen in die Knie. Seine Augen wurden glasig.
«Es tut mir leid«, sagte von Ludolf leise.»Aber ich kann das nicht zulassen.«
Er zog die rechte Hand mit der Pistole aus der Tasche, schüttelte traurig den Kopf und drückte noch einmal ab. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.
Odinsland. Ragnarök
3. April 1939
Das Unterseeboot lag wie ein stählerner Riesenfisch vor dem natürlichen Hafen der Eisinsel. Das Wasser war so klar, daß man seinen Rumpf zur Gänze sehen konnte, und Indiana erkannte, daß es ein sehr großes Boot war. Keiner der kleinen, schnellen Jäger, von denen jeder bereits jetzt — zu Recht — annahm, daß sie im Falle eines ausbrechenden Krieges zu einer der gefürchtetsten Waffen der deutschen Marine werden würden, sondern ein großes, fast plump aussehendes Schiff, das über ein enormes Transportvolumen verfügen mußte.
Trotzdem schauderte Indiana bei der Vorstellung, welch unerträgliche Enge an Bord des U-Boots geherrscht haben mochte, als es Erichs vierzig Soldaten samt ihrer Ausrüstung hierher transportiert hatte. Und allein bei dem Gedanken, an Bord dieses schwimmenden Stahlsarges zu gehen und darin vielleicht Tage, wenn nicht Wochen eingesperrt zu sein, wurde ihm fast schlecht vor Angst.
Gleichzeitig konnte er den Moment kaum noch abwarten. Er wollte weg hier, nichts als weg, fort von diesem Eisberg, fort von den Toten, die in ihm eingeschlossen waren, und vor allem: fort von diesem entsetzlichen Schiff, das wie ein schwarzes Ungeheuer aus einer anderen Welt in seinem Herzen lauerte. Nicht einmal das Maschinengewehr am Bug des U-Boots, dessen Lauf der Bewegung des kleinen Ruderboots beharrlich folgte, flößte ihm so viel Angst ein wie der bloße Gedanke an das Nagelfahr.
Langsam näherten sie sich dem Unterseeboot. Von Ludolf, der breitbeinig und sehr unsicher im Bug des kleinen Schiffchens stand, schwenkte in Ermangelung einer Fahne ein weißes Taschentuch; offensichtlich vertraute er doch nicht so ganz auf die Wirkung seiner grauen Wehrmachtsuniform, wie er Indiana und den anderen noch vor ein paar Minuten an Land hatte einreden wollen.
Auch Indiana und Browning wurden immer nervöser. Browning gefiel verständlicherweise der Gedanke überhaupt nicht, sich auf Gedeih und Verderb einem deutschen Wehrmachtsoffizier auszuliefern, während Indianas Nervosität völlig andere Gründe hatte. Gründe, die er selbst nicht ganz verstand. Eigentlich gab es nichts mehr, wovor er noch Angst haben mußte: Erich war tot, und mit dem ersten Licht des neuen Tages war auch die unerklärliche Raserei völlig von den Männern abgefallen. Aus den Berserkern waren wieder ganz normale Männer geworden; Männer, in deren Gesichtern deutlich das namenlose Grauen abzulesen war, mit dem sie die Erinnerung an die vergangene Nacht erfüllte.
Von Ludolf und die kleine Gruppe um Indiana nicht mitgerechnet, hatten knapp zwanzig Männer das Gemetzel überlebt. Und so, wie sie im Moment zusammengedrängt und verängstigt am Ufer der schwimmenden Eisinsel standen, schien es kaum noch einen Unterschied zwischen ihnen zu geben. Es war gleich, ob Amerikaner oder Deutscher: Jeder einzelne dieser Männer hatte gespürt, daß er einer Macht ausgeliefert gewesen war, die keine Unterschiede machte und an der absolut nichts Menschliches war.
Und wäre Erich nicht völlig wahnsinnig gewesen, davon war Indiana überzeugt, dann hätte selbst er eingesehen, daß die Magie der alten Götter keine Kraft war, die man sich nach Belieben zunutze machen konnte. Eine zweite Nacht auf dieser Insel würde keiner von ihnen überleben.
Sie näherten sich dem Unterseeboot, und Browning, der im Heck des Schiffs saß, drosselte den Motor. Das kleine Boot verlor an Fahrt, stieß mit einem dumpfen Geräusch gegen den Rumpf des U-Boots und schrammte ein paar Meter weit daran entlang, ehe von oben ein Tau herabgeworfen wurde, das Indiana ergriff. Ein zweites Tau folgte, und dann flog eine Strickleiter zu ihnen herab. Indiana knotete den Strick an einer Planke des Bootes fest, ehe er als letzter auf das Deck des U-Boots hinaufstieg.