«Es bleibt dabei«, sagte von Ludolf leise.»Sie sagen kein Wort. Überlassen Sie mir das Reden.«
Brownings Gesichtsausdruck verdüsterte sich noch weiter, während Indiana nur nickte. Sein Verstand war hundertprozentig von der Aufrichtigkeit von Ludolfs überzeugt, sein Gefühl nicht. Aber so, wie es im Moment aussah, hatten sie gar keine andere Wahl, als dem Major zu vertrauen.
Ein hochgewachsener Mann in einer dunkelblauen Uniform mit dem Rangabzeichen eines Kapitänleutnants kam ihnen entgegen, musterte Indiana und Browning kühl und sehr flüchtig und wandte sich dann an von Ludolf. Die Art, in der er die Hand zum HitlerGruß hob, machte deutlich, daß er dieser Ehrenbezeichnung nicht besonders viel Wertschätzung entgegenbrachte und sie nur als Pflichtübung betrachtete.
«Heil Hitler, Herr Major!«sagte er. Nach einer neuerlichen Pause und einem weiteren fragenden Blick auf Indiana und Browning fügte er hinzu:»Wo ist Obersturmbannführer Erich?«
«Tot«, antwortete von Ludolf.
Der Kapitänleutnant runzelte die Stirn. Er sah nicht besonders betroffen aus, nur überrascht.»Was ist geschehen?«
«Ich mußte ihn erschießen«, antwortete von Ludolf. Er machte eine rasche, befehlende Geste und nahm den Kapitänleutnant bei der Schulter, um ihn einige Schritte weit wegzuführen. Dann begann er leise und in Deutsch auf ihn einzureden.
Indiana verstand nicht, was die beiden Männer sprachen. Er beherrschte zwar einige Brocken dieser Sprache, aber von Ludolf redete sehr leise und offensichtlich sehr erregt, und der Kapitänleutnant antwortete ebenso. Aber die Blicke, die die beiden Männer abwechselnd Indiana und Browning oder der Insel zuwarfen, waren vielsagend genug.
Es dauerte gute fünf Minuten, bis von Ludolf sich schließlich umdrehte und zurückkam, während der Kapitän des U-Boots mit schnellen Schritten zum Turm ging und die schmale Leiter hinaufeilte.»Nun«, begann Browning,»was hat er gesagt?«
«Das, was ich Ihnen schon vorher gesagt habe, Dr. Browning«, antwortete von Ludolf.»Kapitänleutnant Bresser wird Sie und Ihre Begleiter als Schiffbrüchige an Bord nehmen und in den nächsten erreichbaren amerikanischen Hafen bringen, beziehungsweise an Bord des nächsten amerikanischen Schiffs, das unseren Kurs kreuzt.«
Browning blickte ihn ungläubig an.»Einfach so?«vergewisserte er sich.
«Einfach so«, bestätigte von Ludolf.»So, wie es die internationalen Seefahrtsregeln vorsehen. Was haben Sie erwartet?«
Browning druckste einen Moment herum. Er wirkte jetzt beinahe verlegen.»Nun, nach den Ereignissen der letzten Tage…«
«Bitte schließen Sie nicht vom Verhalten eines einzelnen Mannes auf das der ganzen deutschen Wehrmacht«, sagte von Ludolf kalt.»Erich war wahnsinnig und ein Verbrecher. Hätte ich ihn nicht erschossen, dann wäre er in Deutschland vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet worden. Mein Wort darauf. Und was diesen Berg angeht, so nehme ich doch an, daß es in unserem beiderseitigen Interesse ist, wenn wir so tun, als habe es dieses Schiff niemals gegeben.«
Browning sagte nichts darauf. Aber der Blick, mit dem er erst von Ludolf und dann Indiana musterte, war beredt genug.
«Sie haben recht«, sagte Indiana rasch, damit Browning nicht irgend etwas Unbedachtes sagte oder tat und so im letzten Moment womöglich noch alles verdarb. Sowohl Browning als auch der deutsche Major blickten ihn fragend an.
«Der Berg schmilzt«, fuhr Indiana erklärend fort.»Ich bin sicher, daß er in wenigen Wochen nicht mehr existieren wird — und damit auch das Schiff. Es wird sinken oder davongetrieben werden.«
Browning runzelte zweifelnd die Stirn, und auf von Ludolfs Gesicht war überhaupt keine Reaktion abzulesen. Aber sie ahnten wohl beide, daß Indiana recht hatte.
Schließlich räusperte sich Browning gekünstelt und wechselte das Thema.»Dann lassen Sie uns die Männer an Bord holen. Gibt es eine Möglichkeit, das Schiff näher an den Berg heranzubringen?«
Von Ludolf schüttelte den Kopf.»Zu gefährlich«, antwortete er.»Wir werden das Boot nehmen müssen. Das dauert zwar eine Weile, aber Bresser hat das U-Boot ohnehin schon viel zu nahe an den Berg heranmanövriert. «Er machte eine Kopfbewegung zum Strand zurück.»Ich werde zwei Matrosen mit dem Boot zurückschicken, damit sie die Männer holen.«
«Das übernehme ich schon«, rief Indiana. Er sprach vielleicht eine Spur zu hastig, und weckte so von Ludolfs Mißtrauen, denn der deutsche Major sah ihn eine Sekunde lang durchdringend an. Aber falls er erriet, warum Indiana wirklich noch einmal zurück auf die Insel wollte, dann behielt er es jedenfalls für sich.
«Gut«, sagte er nur.»Aber bitte, beeilen Sie sich. Ich möchte keine Minute länger hierbleiben als unbedingt nötig.«
«Sicher«, bestätigte Indiana. Er zögerte, räusperte sich umständlich und suchte einen Moment nach Worten.
Von Ludolf legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an.»Ja?«
Indiana zögerte noch immer. Es fiel ihm schwer weiterzusprechen, und als er es tat, war es eine der ganz wenigen Gelegenheiten, bei denen seine Stimme verlegen und stockend klang.
«Major von Ludolf, wir… wir alle sind Ihnen sehr dankbar«, begann er.»Ich… nun, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, aber — «
«Nur zu«, sagte von Ludolf mit einem flüchtigen, aber echten Lächeln.
«Nun, strenggenommen haben Sie gegen die Interessen Ihres Heimatlandes gehandelt«, meinte Indiana unsicher.»Ich meine, es könnte sein, daß Sie… Ärger bekommen.«
«Das ist möglich — aber nicht sehr wahrscheinlich«, entgegnete von Ludolf.»Worauf wollen Sie hinaus, Doktor Jones?«
«Sie können bei uns bleiben«, sagte Indiana.»Ich meine… ich kann Ihnen anbieten, mit uns von Bord zu gehen. Niemand muß es erfahren, bis wir den Hafen erreichen, verstehen Sie? Aber ich bin sicher, daß die Vereinigten Staaten von Amerika Ihnen politisches Asyl gewähren werden, wenn Sie darum ersuchen.«
Im allerersten Moment sah es so aus, als habe er von Ludolf mit diesen Worten beleidigt. Aber dann lächelte der Wehrmachtsoffizier.
«Das ist sehr großzügig von Ihnen, Doktor Jones«, lächelte er.»Aber ich glaube nicht, daß es nötig sein wird. Trotzdem — vielen Dank für das Angebot.«
Indiana sah ihn noch einen Moment unschlüssig an, dann wandte er sich um, kletterte ins Boot zurück und startete den Außenbordmotor, nachdem er das Haltetau gelöst hatte. In einem weiten Bogen entfernte er sich von dem deutschen U-Boot, nahm wieder Kurs auf Odinsland und lenkte das kleine Schiffchen zielsicher auf den Strand hinauf.
Ein paar Soldaten eilten ihm entgegen und halfen ihm, trockenen Fußes an Land zu kommen. Fast alle Überlebenden der vergangenen Nacht hatten sich auf dem schmalen Eisrand versammelt. Indiana entdeckte Morton und Bates zwischen den Soldaten, und nach kurzem Suchen auch Quinns hünenhafte Gestalt.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine steifgefrorenen Lippen, als er den Eskimo sah. Quinn trug noch immer den dicken Bärenfellmantel und den gehörnten Wikingerhelm. Und an seiner Seite baumelte sogar noch das Schwert, mit dem er sich bewaffnet hatte. Wahrscheinlich hatte er vor, die Dinge als Andenken mitzunehmen.
Um so besser, dachte Indiana. Es würde ihm sicher nicht allzu schwerfallen, sie Quinn für die heimatliche Universität und ihr Museum abzuschwatzen.
Dann fiel ihm etwas auf, und er vergaß schlagartig Quinns Verkleidung.
Wo war Mabel!
Er wandte sich an Morton, der jedoch nur mit den Schultern zuckte. Aber Bates antwortete:»Sie ist noch oben. Sie sagte, sie habe etwas vergessen.«