«Ist es… zerstört?«fragte Mabel.
Statt zu antworten, drehte sich Indiana um und näherte sich vorsichtig dem Loch im Eis.
Das Nagelfahr war nicht zerstört. Nicht einmal das Segel war beschädigt. Und es war so, wie Indiana vermutet hatte: Der Boden des Eisschachts war geborsten, und das silbern glänzende Rund hatte sich mit kochendem, sprudelndem Wasser gefüllt, das wie rasend strudelte. Das Nagelfahr hüpfte auf dieser wirbelnden Wasserfläche auf und ab, jetzt höchstens noch hundertfünfzig oder zweihundert Fuß unter ihnen. Und das Wasser stieg noch immer.
Was eigentlich unmöglich war. Es sei denn…
Indianas Kopf ruckte herum, und dann sah er etwas, was seine Augen in Entsetzen weitete: den Turm des deutschen Unterseeboots!
«Großer Gott«, flüsterte er.»Er… er sinkt!«
Mabel sah ihn verwirrt an.»Was meinst du?«
«Er sinkt!«wiederholte Indiana.»Der Berg! Odinsland… versinkt im Meer!«
«Aber das ist unmöglich«, widersprach Mabel erregt.»Eisberge sinken nicht!«
«Aber dieser hier tut es!«brüllte Indiana.»Frag mich nicht, wie. Aber dieser ganze verdammte Eisklotz versinkt im Meer!«
Und es war ganz genau so, wie er sagte: Die Oberfläche Odinslands befand sich jetzt bereits so tief, daß sie nicht nur den Turm des Unterseeboots, sondern bereits auch sein Heck sehen konnten.
«Um Gottes willen!«schrie Indiana.»Weg hier! Nichts wie weg!«
Er fuhr herum, packte Mabels Hand und spurtete los, wobei er sie einfach mit sich zerrte. Einen Moment lang versuchte sie ganz instinktiv, sich loszureißen, aber dann sah auch sie ein, daß sie um ihr Leben laufen mußten, und beschleunigte ihre Schritte.
Es war ein Rennen, das sie nicht gewinnen konnten. Der Berg zitterte und bebte jetzt unablässig unter ihren Füßen, und einmal stürzte ein Teil des Bodens von der Größe eines Fußballfelds unmittelbar neben ihnen in sich zusammen und riß sie um ein Haar mit sich in die Tiefe. Von der Stelle im Meer aus, an der sich der Eisstrand befunden hatte, wehten verzweifelte Schreie zu ihnen herauf.
Indiana sah sich im Laufen um, und was er sah, das ließ ihn noch einmal einen Schreckensruf ausstoßen: Odinsland war mittlerweile fast völlig gesunken. Was einmal eine hohe schwimmende Burg aus Eis gewesen war, das war jetzt nur noch eine zerrissene Scholle, die wie durch ein kleines Wunder noch nicht in mehrere Stücke zerbrochen war und allerhöchstens noch fünf oder sechs Fuß weit aus dem Meer ragte. Der Rumpf des Nagelfahr war deutlich über dem Kraterrand in seiner Mitte zu sehen. Das rotweiß gestreifte Segel blähte sich, obwohl nicht der mindeste Wind wehte, und der Bug des Götterschiffs drehte sich ganz langsam herum.
«Erich!«murmelte er.
Indiana ahnte die Bewegung mehr, als daß er sie wirklich sah, und warf sich blitzartig zur Seite, wobei er Mabel mit sich von den Füßen riß.
Ein weißgoldener Blitz sengte eine rauchende Spur aus Hitze und Licht in die Luft, genau dort, wo Mabel und er sich befunden hätten, wären sie weitergelaufen, und explodierte zwei- oder dreihundert Meter entfernt im Meer. Ein ungeheurer Donnerschlag erklang, und eine turmhohe Dampfwolke schoß aus der Meeresoberfläche empor. Indiana schloß geblendet die Augen, rollte sich herum und preßte sich schützend gegen Mabel.
«Was ist das?«schrie sie voller Angst.
«Erich!«brüllte Indiana über das donnernde Tosen, das noch immer anhielt, hinweg.»Ich weiß nicht, wie er es macht, aber es ist Erich!«
«Aber das ist unmöglich! Er ist tot!«
Ein zweiter, scheinbar noch grellerer Blitz zerriß die Luft nur wenige Meter über ihnen, und diesmal stöhnte Indiana vor Schmerz, als eine kochendheiße Hitzewelle seinen Rücken versengte.
«Sag ihm das!«brüllte er.»Vielleicht hat er es noch nicht gemerkt!«
Geblendet hob er den Kopf und suchte verzweifelt nach einer Deckung, einem Versteck, in das sie sich vor den tödlichen Lichtblitzen verkriechen konnten. Das Eis, auf dem sie lagen, zitterte und bebte noch immer, aber das dumpfe Poltern und Krachen aus dem Inneren des Bergs hatte ein wenig nachgelassen, und Odinsland sank auch nicht weiter. Seine Oberfläche ragte jetzt allerhöchstens noch einen Fuß hoch über das Meer hinaus, und überall begannen sich die neu entstandenen Risse und Spalten im Eis mit Wasser zu füllen. Statt des dumpfen Krachens zusammenbrechender Hohlräume hörte Indiana jetzt ein beständiges Knistern und Knirschen, und plötzlich ging ein letzter, sehr heftiger Ruck durch den Boden.
Dann zerbrach der ganze gigantische Eisberg in zwei Teile.
Gehetzt blickte Indiana um sich. Das deutsche Unterseeboot befand sich eine knappe halbe Meile hinter ihnen, bei den mörderischen Wassertemperaturen mindestens zehnmal zu weit, um auch nur daran zu denken, dorthin zu schwimmen. Ganz davon abgesehen, daß da immer noch Erich war, der es irgendwie geschafft haben mußte, zu überleben und sich die entsetzliche Magie der alten Götter zunutze zu machen.
Er drehte sich wieder herum und sah zum Nagelfahr zurück. Das Schiff hatte seinen wilden Tanz auf dem Wasser beendet und den Drachenbug auf den neu entstandenen Kanal auf dem Eis ausgerichtet, und das Segel blähte sich stärker. Wie von Geisterhand bewegt, tauchten die riesigen Ruder ins Wasser. Langsam, zitternd, als müsse es nach einem Jahrtausend des Schlafes erst allmählich die Kontrolle über seinen Körper wiederfinden, setzte sich das Nagelfahr in Bewegung. Indianas Blick hing wie gebannt an der winzigen, in eine zerfetzte rotweiße Jacke gekleideten Gestalt hinter dem Bug. Es war Erich. Er konnte es nicht sein, denn Mabel und Indiana und fast zwei Dutzend Leute hatten mit eigenen Augen gesehen, wie er gestorben war, aber er war es! Hoch aufgerichtet stand er da, blutüberströmt das Gesicht und zu einer Grimasse des Wahnsinns verzerrt. In seiner Hand glitzerte etwas Großes, Goldenes, und plötzlich kam Indiana ein fürchterlicher Gedanke. Wenn dieses Schiff wirklich Odins Schiff war, dann war das, was er an Bord gefunden hatte, vielleicht -
Nein, die Vorstellung war einfach zu entsetzlich.
«Welche Vorstellung?«fragte Mabel.
Indiana fuhr erschrocken zusammen und begriff erst jetzt, daß er zumindest den letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte. Er schwieg einen Moment. Als er dann sprach, klang seine Stimme belegt und brüchig wie die eines alten Mannes.»Die Vorstellung, daß das, was er in der Hand hält, Thors Hammer ist«, sagte er.
Mabel wurde kreidebleich.»Das… das… das ist nicht dein Ernst«, stammelte sie.
«Thors Hammer, der Blitze schleudert«, sagte Indiana tonlos. Sein Blick hing an dem goldenen Funkeln in Erichs rechter Hand. Obwohl das Schiff schnell näherkam, konnte er nicht genau erkennen, was es war. Aber der furchtbare Verdacht war mittlerweile fast zur Gewißheit geworden.
«Wenn das stimmt, dann ist das die fürchterlichste Waffe, die es jemals auf dieser Welt gegeben hat«, flüsterte Mabel entsetzt.
«Ja«, antwortete Indiana.»Und sie ist in der Hand eines Wahnsinnigen.«
Seine Gedanken rasten. Er mußte etwas tun, irgend etwas, und wenn es sein eigenes Leben kostete. Es spielte keine Rolle mehr. Erich an Bord des Nagelfahr, mit Thors Hammer bewaffnet — das war eine Gefahr, gegen die selbst Hitler mit all seinen zahllosen Panzern und Flugzeugen verblaßte. Er mußte diesen Wahnsinnigen aufhalten, ganz gleich, wie.
Seine Hand glitt zu der Peitsche, die er zusammengerollt am Gürtel trug, und schloß sich um den Griff, während er den Kurs abzuschätzen versuchte, den das Nagelfahr nahm. Das Schiff bewegte sich jetzt nicht mehr ganz so schnell wie zu Anfang, aber die Ruder hatten einen Takt gefunden, der es gleichmäßig durch das Wasser gleiten ließ. Ihm blieb eine Minute, sich etwas einfallen zu lassen, aller-höchstens eineinhalb. Eine verflucht kurze Zeit, um die Welt zu retten.
«Versteck dich irgendwo«, sagte er, während er die Peitsche vom Gürtel löste und aufrollte.»Lauf weg. Versuche, irgendwo unterzukriechen.«