Mabel kletterte mit zusammengebissenen Zähnen an Bord des Schiffs. Erich hatte sie bisher nicht einmal bemerkt. Geduckt und nur auf Zehenspitzen laufend, um kein überflüssiges Geräusch zu verursachen, rannte sie auf ihn zu.
«Übertreiben Sie es nicht, Dr. Jones«, rief Erich zornig. Das Schiff und Indiana befanden sich jetzt fast auf gleicher Höhe, und Erich war ihm so nahe, daß er ihn vielleicht mit seiner Peitsche hätte treffen können.
Er schlug nach ihm. Er wußte vorher, wie sinnlos es war, und auch Erich machte sich nicht einmal die Mühe, den Arm zu heben oder dem Hieb ausweichen zu wollen, sondern warf mit einem wilden Lachen den Kopf in den Nacken, als die Peitschenschnur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht an einem unsichtbaren Hindernis abprallte.
«Geben Sie auf, Dr. Jones!«schrie er grinsend.»Sehen Sie endlich ein, daß ich unverwundbar bin. Nichts und niemand kann mich jetzt mehr aufhalten. Nichts!«
Und im gleichen Moment sprang Mabel ihn an.
Er schien die Bewegung im allerletzten Augenblick zu spüren, denn er versuchte herumzufahren, aber er war nicht schnell genug. Mabel sprang mit weit ausgebreiteten Armen gegen ihn, riß ihn durch die pure Wucht ihres Ansturms von den Füßen und klammerte sich an ihn. Der Hammer entglitt Erichs Hand, flog in hohem Bogen davon und prallte vom geschnitzten Drachenkopf des Nagelfahr ab. Sich in der Luft überschlagend trudelte er über Bord, fiel klatschend ins Wasser und versank in der Tiefe. Einen Augenblick lang leuchtete sein goldener Schein noch zu Indiana empor, dann erlosch er.
Erich schrie wie von Sinnen, schleuderte Mabel von sich und sprang auf. Mit einer einzigen Bewegung war er an der Reling und beugte sich vor. Sein Blick irrte über das Wasser, und auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck namenlosen Entsetzens breit.
«Nein!«schrie er. »Nein! Nein! Nein!« Immer und immer wieder dieses eine Wort.
«Mabel!«brüllte Indiana.»Spring!«
Mabel hatte sich erhoben und versuchte ebenfalls die Reling zu erreichen. Erich fuhr herum. Sein Gesicht, ohnehin schon verzerrt, wurde vollends zur Grimasse, und ein tiefes, fast tierisches Knurren drang aus seiner Kehle. Mit einem gellenden Schrei warf er sich vor, packte Mabel am Nacken und bei den Hüften und riß sie einfach in die Höhe.
Wenigstens versuchte er es.
Es gelang ihm nicht. Entweder seine Berserkerkräfte versagten — oder auch Mabel verfügte mit einem Mal über die gleiche unheimliche Stärke, denn sie entwich seinem Griff mit fast spielerischer Leichtigkeit, drehte sich um und versetzte ihm einen Stoß, der ihn rücklings taumeln und hart gegen einen der Schilde fallen ließ. Erich sank mit einem Schmerzenslaut auf die Knie, sprang sofort wieder in die Höhe und machte einen einzigen unsicheren Schritt, ehe er wieder stehenblieb und Dr. Rosenfeld verblüfft anstarrte.
Und auch Indiana vergaß für einen Moment seine Furcht, die entsetzliche Situation, in der er sich befand, ja sogar die fürchterliche Gefahr, die dieses Schiff und der Wahnsinnige darstellten. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Unverständnis blickte er Mabel an.
Etwas… umgab sie. Ein goldenes, scheinbar aus dem Nichts kommendes Licht, ein magischer Schein, wie der Glanz, der Thors Hammer eingehüllt hatte, aber weicher, sanfter. Millionen und Abermillionen winziger goldglänzender Lichtpartikel schwebten mit einem Mal um ihren Körper, bildeten einen wabernden Umhang aus Milliarden von winzigen Lichtkäfern, der sich eng um ihre Gestalt schmiegte. Und auch ihr Geist veränderte sich. Für einen Moment erschien auch auf ihren Zügen ein Ausdruck maßloser Verblüffung. Dann aber las Indiana plötzlich etwas wie… Wissen in ihren Augen. Ein unendlich tiefes, unendlich altes Wissen. Alle Angst und aller Schmerz in Mabel Rosenfelds Blick erloschen und machten einer tiefen, übermenschlichen Ruhe Platz. Und schließlich erschien ein fast glückliches Lächeln auf ihren Zügen.
Erich schrie auf wie unter Schmerzen, riß die Arme in die Höhe und versuchte sich auf sie zu stürzen. Mabel machte eine fast lässige Bewegung mit der linken Hand, und ein goldener Blitz traf Erichs Gestalt, hüllte sie ein und schleuderte ihn zu Boden. Er schrie auf, riß die Hände schützend vor das Gesicht und rollte drei-, vier-, fünfmal hintereinander über das schwarze Deck des Nagelfahr, bevor er wimmernd liegenblieb.
«Mabel!«flüsterte Indiana.
Obwohl er sehr leise gesprochen hatte, wandte sie den Blick und sah ihn an. Und wieder zitterte Indiana beim Anblick ihrer Augen und des unendlich tiefen Wissens, das darin schlummerte. Es war nicht mehr länger das Wissen eines Menschen.
«Komm zurück!«rief er.»Spring!«
Mabel schüttelte den Kopf. Sie lächelte.»Ich kann nicht zurück«, sagte sie.»Und ich will es auch nicht.«
Das Schiff war jetzt fast an ihm vorübergeglitten, und Indiana begann zu laufen, um mit dem Nagelfahr Schritt zu halten.»Komm zurück!«schrie er noch einmal.»Spring! Ich fange dich auf.«
Wieder schüttelte Mabel den Kopf. Und wieder erschien dieses sonderbar glückliche Lächeln auf ihren Zügen.»Ich muß an Bord bleiben«, sagte sie.»Und es ist gut so.«
«Aber warum?«schrie Indiana.
Er glaubte, die Antwort zu wissen. Aber sie war so schrecklich, daß er sich für einen Moment weigerte, sie zu akzeptieren.
«Weil dieses Schiff seiner Bestimmung gehorchen muß«, sagte Mabel ruhig.»Odin selbst hat es geschickt, um die letzten Wikinger abzuholen, und es kann nicht eher zurück nach Walhall, bis es seine Aufgabe erfüllt hat. Ich muß an Bord bleiben. Und ich will es.«
Indiana rannte schneller. Er hatte den Rand des Eisplateaus fast erreicht. Noch fünfzehn, zwanzig Schritte, und das Nagelfahr hatte das offene Meer erreicht.
Das riesige Segel blähte sich, die Ruder schlugen schneller ins Wasser, und das Schiff nahm mehr und mehr Fahrt auf, so daß Indiana zurückfiel. Er schrie immer wieder Mabels Namen, und er wußte, daß sie ihn hörte, aber sie antwortete jetzt nicht mehr, sondern stand einfach da, blickte einen Moment lang die wimmernde Gestalt zu ihren Füßen an und wandte sich dann noch einmal zu Indiana um. Sie hob die Hand, winkte ihm zum Abschied zu und ging dann zum Bug des Schiffs. So blieb sie stehen, hoch aufgerichtet und die linke Hand auf den riesigen Drachenkopf des Nagelfahr gelegt, bis das Schiff die offene See erreichte und langsam auf einen nördlichen Kurs schwenkte; in die gleiche Richtung, in die sich Odinsland in den vergangenen eineinhalb Tagen bewegt hatte.
Indiana blieb reglos am Ufer der zerbrochenen Eisinsel stehen. Das Schiff passierte das Unterseeboot und wurde schneller. Die Ruder tauchten emsiger ins Wasser, und das Segel blähte sich noch heftiger, obwohl auch jetzt noch Windstille herrschte.
Und er versuchte vergeblich, Schmerz zu empfinden. Trauer, ja, und ein wenig Enttäuschung über den Verlust, den er erlitten hatte, denn obwohl keiner von ihnen es ausgesprochen hatte, war doch mehr als Freundschaft zwischen ihnen gewesen. Vielleicht, dachte er, hätte Mabel die erste Frau werden können, die in seinem Leben wirklich eine Rolle spielte.
Und trotzdem empfand er keine Verbitterung. Sie hatte getan, was sie tun mußte, und vielleicht waren sie alle, einschließlich ihm, Browning, Bates, ja sogar dieses wahnsinnigen Deutschen, der jetzt bei Mabel war und sich vor einer höheren Gerechtigkeit für sein Tun würde verantworten müssen, zu einem einzigen Zweck hierher geschickt worden: damit sie an Bord ging.
Das Schiff der Götter hatte seine Bestimmung erfüllt.
Und einen ganz kurzen Moment, bevor das Nagelfahr in der Ferne zu einem winzigen Punkt schmolz und schließlich ganz verschwand, glaubte er, einen gewaltigen schimmernden Regenbogen zu sehen, der sich aus der Oberfläche des Meeres erhob und direkt bis in den Himmel hinaufführte.