«Fürchtet sich das russische Reich vor ein paar Hunnen?«fragte Indiana in dem vergeblichen Versuch, den ernsten Ton aufzulockern, der sich in ihr Gespräch eingeschlichen hatte. Er merkte selbst, wie unpassend es war.
«Es sind nicht nur ein paar Hunnen«, antwortete Tamara.»Ich rede von Dschingis Khans Horden, Indiana. Ich rede von den Reitern, die halb Europa und fast ganz Asien erobert haben. Wir fürchten sie nicht. Zauberschwert oder nicht, gegen Panzer und MGs hätten sie kaum eine Chance. Aber der Gedanke, daß wir gezwungen sein könnten, Tausende von Menschen zu töten, wenn nicht Zehn- oder gar Hunderttausende, macht mich krank. Überlegen Sie nur einmal, daß die Ureinwohner Ihres Landes das Kriegsbeil ausgraben und den weißen Mann angreifen würden. Auch Sie hätten wohl keine Angst vor ihnen, nehme ich an.«
Das saß.»Entschuldigung«, sagte Indiana.»Das war dumm von mir. Aber bitte, verstehen Sie mich richtig, Tamara. Ein Volksaufstand in der Mongolei ist allein das Problem der Sowjetregierung. Ich kann mich da nicht einmischen. Selbst wenn ich es wollte. Ich bin amerikanischer Staats-«
Ein leises Klopfen unterbrach Indiana. Mit verhaltenem Ärger schloß Tamara die Tasche und blickte zur Tür.»Ja, bitte?«
Die mit braunem Schweinsleder verkleidete Tür öffnete sich, und ein livrierter Bediensteter der Botschaft schob sich in den Raum.»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Genossin Kommissar«, wisperte er und schaffte es gerade noch, vor Ehrfurcht nicht in den Teppich einzusickern,»aber Professor Jones wird dringend in der Halle verlangt.«
Indy drehte sich erstaunt herum.
«Von wem?«
Der Hausdiener zog umständlich eine Visitenkarte aus seinem Jackett und studierte sie eingehend.»Ein Professor Marcus Brody«, verkündete er dann und warf einen scheuen Blick auf Tamara Jaglova.»Soll ich ihn heraufbitten?«
Bevor sie antworten konnte, war Indiana bei ihr und berührte sie an der Schulter.»Verzeihen Sie, Tamara, aber ich würde gern unter vier Augen mit ihm sprechen. Natürlich wahre ich absolute Diskretion«, fügte er hinzu, als er sah, daß sie zu einer Entgegnung ansetzen wollte. Wenn Marcus sich persönlich hierher bemühte, mußte die Angelegenheit hochoffiziell sein.
Indy hatte seinen Freund und Kollegen eigentlich in der Oper vermutet; eine kulturelle Vorliebe, der Marcus bei jeder Gelegenheit frönte.
Tamara sah ihn einen Moment mit forschender Miene an, aber dann nickte sie.
«Gut, ich werde hier warten. Bitte, Indiana — kein Wort über unser Gespräch.«
Indiana Jones folgte dem Livrierten über die breite Prachttreppe ins Erdgeschoß. Während er mit Tamara oben im Zimmer gewesen war, hatten Sverlowsks Leute ein kleines Wunder bewirkt und sämtliche Spuren der Explosion und der anschließenden Panik aus der Halle getilgt. Fast hätte er geschmunzelt, als er Marcus Brody in der nunmehr vollkommen leeren, mit weißen Marmorfliesen ausgelegten Halle sah. In seinem Frack sah Marcus aus wie ein Pinguin, der sich auf einer riesigen Eisscholle verirrt hatte.
Ein reichlich nervöser Pinguin, der fortwährend die Hände rang und sich nach allen Seiten umsah. Als er Indiana erblickte, erhellte sich sein Gesichtsausdruck — und seine Nervosität wuchs schlagartig um mehrere Grade. Er eilte ihm entgegen.
«Gott sei Dank, Indy«, sagte Marcus Brody atemlos.»Ich dachte schon, dir wäre etwas passiert. «Er deutete auf den Flügel des Raumes, der durch die Explosion deutlich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Glassplitter waren zwar entfernt worden, aber die Fensterrahmen waren geschwärzt, und Wände und Fußboden sahen aus wie nach einem Tieffliegerangriff. Erneut kam es Indiana wie ein Wunder vor, daß durch die Explosion niemand ernsthaft verletzt worden war.
Indiana setzte zu einer Erwiderung an, doch Marcus Brody fuhr fort, ohne auch nur Luft zu holen.»Indy, etwas Unglaubliches ist geschehen. Ich muß dich sofort sprechen.«
Er wandte sich an den Diener, der in respektvollem Abstand stehengeblieben war.»Wo können wir — äh, Sie sprechen doch englisch? Oh, gut. Gibt es einen Raum, wo Doktor Jones und ich ein Gespräch unter vier Augen führen können?«
Minuten später standen sie in einem prunkvollen Zimmer, das in einem Haus normaler Größe mindestens einen mittleren Ballsaal abgegeben hätte. Nur an den exquisiten Möbeln und den dicken Teppichen war zu erkennen, daß es ein ansonsten bewohnter Raum war. Auch hier herrschte der zaristische Prunk vor, mit dem die Botschaft vom Keller bis zum Dachfirst protzte; unbeschadet von allem, was seine Bewohner sagten.
Brodys Nervosität war in den letzten Minuten noch weiter angewachsen, und kaum hatte sich die Tür hinter dem Diener geschlossen, als er auch schon lossprudelte:»Es ist unglaublich, Indy, einfach unglaublich. Man hat mich mitten aus Mozarts ›Zauberflöte‹ geholt und geradewegs ins Weiße Haus entführt. Ins Weiße Haus, Indy! Wenn du ahnen würdest, wer mich dort empfangen hat — «
«Der Präsident, nehme ich an«, sagte Indiana trocken.
«Du weißt …?«
«Marcus, es steht dir mit leuchtenden Lettern auf der Stirn geschrieben«, sagte Indiana ruhig.»Jetzt spann mich nicht länger auf die Folter. Was wollte Frankie von dir?«
«Mister Franklin D. Roosevelt«, betonte Marcus ärgerlich,»wünschte mich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen, die vor allem dich betrifft. Es geht um deine Einladung zu diesem Empfang. Das State Department hat erfahren, daß du für eine Expedition angeworben werden sollst, für eine absolut unglaubliche Sache. Du wirst nicht glauben, was die Russen gefunden zu haben behaupten. Ich kann es selbst nicht fassen. Indy, du wirst nie erraten — «
«Das Schwert des Dschingis Khan«, sagte Indiana im Plauderton.»Und ehe du deinen Blutdruck unnötig weiter in die Höhe treibst, Marcus — ich habe mich bereits entschieden.«
Brody stand einen Moment wie erstarrt, dann griff er sich mit der Rechten ins schüttere Haar.»O nein, Indy. Ich habe es geahnt. «Er drehte sich abrupt um und begann im Raum auf-und abzuschreiten.»Ich wußte, daß sie dich herumkriegen würden. Und das Schlimmste ist: Ich verstehe dich sogar. Das Schwert des Dschingis Khan! Ich würde alles dafür geben, es auch nur sehen zu können. «Brody seufzte.»Aber das State Department hat strikte Order gegeben, dich davon abzuhalten. Du weißt, was die Legende den Mongolen bedeutet. Angenommen, es ist wirklich das Schwert des Khan, dann kommt es garantiert zu einer Krise, wie sie die Sowjetunion seit ihrem Bestehen nicht erlebt hat. Das gesamte mongolische Volk wird sich erheben. Dagegen nehmen sich Hitlers Truppen wie … wie Zinnsoldaten aus.«
«Ich weiß. Dasselbe habe ich vorhin zu Tamara Jaglova gesagt. «Er lächelte flüchtig.»Sogar mit denselben Worten.«
«Tamara Jaglova?«
«Die Kommissarin, die die Expedition leiten soll.«
«Natürlich! Ich hätte es wissen müssen! Sie haben dir eine Frau geschickt! Diese Russen sind raffinierter, als man denkt. Indy, du kannst da nicht mitmachen! Es wird zu einem Aufstand kommen, aus dem die Vereinigten Staaten sich heraushalten müssen. Die Sache ist eine rein russische Angelegenheit. Du weißt, wie empfindlich sie sind, wenn sie glauben, daß sich jemand in ihre Angelegenheiten mischt! Es kann zu … zu unabsehbaren diplomatischen Verwicklungen kommen!«
«Du weißt genau, daß ich diese Sache nicht unter politischen Aspekten sehen kann«, erwiderte Indiana ernst.»Das Schwert des Dschingis Khan, Marcus! Du hast gesagt, du würdest alles geben, es auch nur zu sehen. Und ich habe die Chance, es zu finden. Archäologie, Marcus, ist international. Du kennst meine Auffassung doch am besten.«
«Natürlich kenne ich sie. «Marcus zuckte resignierend mit den Schultern. Er hatte eingesehen, daß jedes weitere Wort sinnlos war.»Ich hatte ehrlich gesagt auch nicht die Hoffnung, es dir ausreden zu können. Aber was soll ich dem State Department sagen?«