«Ich wußte es nicht«, verteidigte sich Tamara.»Verdammt, ich hätte mir fast in die Hosen gemacht, als der Brunnen in die Luft flog.«
«Dasselbe passiert mir auch gleich«, murmelte Indiana.
Dann kehrte er übergangslos zum Thema zurück.»Also — die Bombe war nur eine Attrappe; oder sollte es sein. Das heißt, daß jemand euren Plan gekannt und sich eingeklinkt hat.«
Tamara nickte.»Ich fürchte ja.«
«Das heißt, daß ihr eine undichte Stelle habt.«
«Sieht so aus.«
«Wer hat alles von eurem Plan gewußt?«fragte Indiana.»Außer dir selbst?«
«Nur Sverlowsk — und zwei, höchstens drei andere«, sagte Tamara.»Sverlowsk fällt aus. Er ist absolut integer.«
«Da wäre ich nicht so sicher«, wandte Indiana ein, wurde aber sofort von Tamara unterbrochen.
«Er würde mich niemals in Gefahr bringen. Er ist mein Onkel.«
Indiana hätte ihr sagen können, daß auch das nicht unbedingt etwas bedeuten mußte, aber jetzt war nicht die Zeit für Diskussionen dieser Art.
«Ich bin sicher, daß Sverlowsk bereits alle anderen, die von unserem Plan wußten, überprüfen läßt«, sagte Tamara.»Er wird den Verräter kriegen. Schon wegen des Brunnens.«
Indiana sah sie fragend an.
«Er liebte diesen Brunnen«, erklärte Tamara. Sie lächelte verzeihend.»Was seinen Geschmack angeht, ist er so etwas wie das schwarze Schaf der Familie.«
Indiana warf einen Blick auf die Straße hinab. Die Gestalten, die er vorhin gesehen hatte, waren verschwunden. Aber er war ziemlich sicher, daß sie noch da waren.»Im Klartext heißt das, daß wir niemandem trauen können«, sagte er.»Deinen Leuten nicht, weil ihr einen Verräter unter euch habt, und meinen nicht, weil sie alles andere als erbaut davon sind, daß ich bei eurem Unternehmen überhaupt mitmache.«
«Heißt das, daß du aussteigen willst?«fragte Tamara.
«Aussteigen?«Indiana lachte.»Jetzt erst recht nicht. Wir sollten nur genau überlegen, was wir als nächstes tun. «Nachdenklich sah er sie an.»Ich nehme an, du hast bereits alle notwendigen Dokumente für mich vorbereitet, damit ich in die UdSSR einreisen kann?«
«Sicher. «Tamara schlug mit der flachen Hand auf ihre Tasche.»Und zwei Flugkarten erster Klasse nach Paris.«
«Wunderbar«, sagte Indiana.»Wirf sie weg. Wir verlassen das Land auf meinem Weg.«
«Aber warum?«
«Weil der Verräter, der dir die echte Bombe untergeschoben hat, wahrscheinlich genausogut weiß wie du, was in deiner Tasche ist«, sagte Indiana.»Sie würden spätestens am Flughafen auf uns warten. Oder eine Bombe ins Flugzeug schleusen. Auf ein paar Menschenleben mehr oder weniger scheint es deinen Freunden ja nicht anzukommen. «Er schüttelte entschieden den Kopf.»Nein — wir verlassen das Land auf meinem Weg. Hast du Geld?«
«Geld?«Tamara blinzelte.»Wozu? Die Angehörigen des Diplomatischen Corps — «
Indiana winkte ab.»Schon gut. Ich hoffe, der Oberste Sowjet in Moskau ist kreditwürdig. Und jetzt komm. «Er machte einen Schritt und blieb noch einmal stehen.»Hast du wenigstens eine Waffe?«
«Eine Waffe?«Tamara wirkte noch verwirrter als bei seiner Frage nach ihren Finanzverhältnissen.»Wozu? Ich brauche keine.«
«Na gut«, seufzte Indiana.»Dann bleib immer hinter mir, verstanden? Egal, was passiert.«
Sie verließen das Museum auf dem gleichen Weg, auf dem sie es betreten hatten. Tamara fiel auf, daß sich Indiana plötzlich auch anders zu bewegen schien; es war fast so, als wäre er nicht in neue Kleider, sondern zugleich auch in eine neue Haut geschlüpft.
Draußen auf dem Gehsteig hielt Indiana noch einmal an und sah sich um. Nichts.
«Wohin gehen wir?«fragte Tamara.
«Zum Bahnhof«, antwortete Indiana.»In einem Abteil dritter Klasse inmitten einer Horde schreiender Kinder, dicker, schwarzer Haushälterinnen und puertoricanischer Putzfrauen suchen sie bestimmt nicht nach uns.«
Tamara verdrehte lautlos die Augen. Allmählich dämmerte ihr, daß Indiana Jones Spaß an der Geschichte zu finden begann …
Womit sie nicht einmal so unrecht hatte. Allerdings hielt dieser Anfall von Abenteuerlust nicht sehr lange an. Genau gesagt, nur so lange, bis sie in die erste Seitenstraße einbogen und Indiana die beiden Gestalten erblickte, die zwanzig Meter vor ihnen unter einer Straßenlaterne standen.
Abrupt hielt er mitten im Schritt inne und sah die beiden Typen mißtrauisch an. Es waren stämmige, breitschultrige Gestalten, die für Straßenräuber entschieden zu elegant gekleidet waren. Allerdings bezweifelte Indiana, daß sie rein zufällig hier herumstanden. Es war mitten in der Nacht und entschieden zu kalt, um aus Langeweile auf der Straße herumzulungern.
Er drehte sich um und war nicht besonders überrascht, daß auch hinter ihnen zwei Gestalten wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Vier gegen einen … das war nicht besonders fair, dachte er.
«Sei auf der Hut«, flüsterte er.»Und wenn es brenzlig wird, kümmer dich nicht um mich. Lauf weg.«
Er räusperte sich, drehte sich wieder um und ging mit einem gezwungen wirkenden Lächeln auf die beiden Gestalten vor sich zu.»Hallo Jungs«, sagte er.»Nur für den Fall, daß ihr vom FBI oder — «
Er sprach nicht weiter. Er hatte sich den Männern weit genug genähert, um ihre Gesichter zu erkennen. Indiana wußte nicht, was sie waren, — aber er war ziemlich sicher, zu wissen, was sie nicht waren — nämlich FBI-Beamte, die gekommen waren, um ihm die Teilnahme an dieser Expedition mit sanftem Nachdruck auszureden. Es sei denn, das FBI stellte neuerdings auch Mongolen ein …
«Versuch du es, Tamara«, sagte er nervös.»Sie scheinen mich nicht zu verstehen.«
Er widerstand nur mühsam der Versuchung, einen Blick über die Schulter zu werfen. Er wußte, daß die beiden anderen noch da waren. Und vermutlich näher kamen.
Während Tamara die beiden Gestalten auf russisch ansprach, legte Indiana wie zufällig die Hand auf den Stiel der zusammengerollten Peitsche. Er konnte ziemlich gut damit umgehen, aber sie waren immerhin zu viert. Und da damit zu rechnen war, daß sie bewaffnet waren … nein, es sah nicht gut aus.
Ganz und gar nicht gut.
Eine Sekunde später sah es noch viel schlechter aus, denn was immer Tamara den beiden Burschen auf russisch gesagt hatte, es schien ihnen nicht zu gefallen. Auf dem Gesicht des einen erschien ein zorniger Ausdruck, während sich das des anderen zu einem hämischen Grinsen verzog, bei dem er zwei Reihen gelber, zum Teil abgebrochener oder abgefaulter Zähne entblößte. Nein, das waren ganz eindeutig keine FBI-Beamten.
Eine Sekunde später stürmten sie beide los, und Indiana hörte auch hinter sich schwere Schritte auf dem Straßenpflaster.
«Tamara!« brüllte er, während er die Peitsche von seinem Gürtel löste. »Lauf weg!«
Mit einem gekonnten Schwung ließ er die Peitsche knallen.
Ihr geflochtenes Ende berührte beinahe sanft die Brust eines der beiden Burschen, und der Kerl wurde jählings von den Füßen gerissen und landete mit weit ausgebreiteten Armen auf dem Straßenpflaster. Indiana steppte einen Schritt zur Seite, schwang die Peitsche zu einem zweiten Schlag — und mußte plötzlich mit aller Gewalt um sein Gleichgewicht kämpfen.
Hilflos taumelte er zurück, drehte sich halb um die eigene Achse und sah, was — beziehungsweise wer — ihn fast zu Boden gerissen hätte. Er hatte eine Idee zu weit ausgeholt. Einer der beiden Burschen hinter ihm hielt das Ende der Peitschenschnur gepackt. Das steinharte Leder mußte ihm die Hände bis auf die Knochen abgerissen haben, aber das hinderte ihn nicht daran, weiter an der Peitsche zu zerren wie ein Fischer, der ein Netz einholte, so daß Indiana entweder die Peitsche loslassen — oder auf den Kerl zustolpern mußte. Er entschied sich für loslassen.
Der Bursche schien nicht damit gerechnet zu haben, denn plötzlich war er es, der mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht kämpfte und eine Sekunde später auf das Straßenpflaster krachte.