«Sie meinen es wirklich ernst«, sagte Tamara.
«Ja«, murmelte Indiana.»Und das ist noch nicht einmal alles.«
«Was ist denn … noch?«fragte Tamara stockend.
«Kannst du dir das nicht denken?«fragte Indiana.»Ganz Washington steht Kopf, Tamara! Deine Leute, weil sie nicht wissen, ob du noch am Leben bist und was mit den Unterlagen in deiner Tasche ist, und meine, weil sie allmählich begreifen, daß ich mich auf mehr eingelassen habe als auf eine ›archäolo-gische Expedition‹. «Er verdrehte die Augen.»CIA, FBI, Army und jeder einzelne Polizist dieses Landes suchen mich.«
«Aber warum denn?«
«Das fragst du noch?«Indiana fuhr zusammen, als er bemerkte, daß er vielleicht ein bißchen zu laut gesprochen hatte.
Mehrere andere Gäste drehten die Köpfe und warfen ihm neugierige oder auch mißbilligende Blicke zu. Mit gedämpfter Stimme, aber immer noch hörbar erregt, fuhr er fort.
«Die Geschichte von Dschingis Khans Schwert hat sich herumgesprochen. Und unsere Regierung kann auch zwei und zwei zusammenzählen. Wenn auch nur die Hälfte von dem eintritt, was du befürchtest, dann kann das den Lauf der Geschichte verändern.«
«Jetzt bitte ich dich aber — «begann Tamara.
Indy unterbrach sie mit einer Handbewegung.»Nein. Ich bitte dich. Und zwar darum, mich nicht länger wie einen Idioten zu behandeln.«
«So?«fragte Tamara ruhig. Sie sah ihn nicht an.
«Ein Mongolenaufstand kann das Ende der Sowjetunion bedeuten«, sagte Indiana.
«Jetzt übertreibst du«, sagte Tamara. Es klang lahm.»Es sind nur ein paar Hundert oder bestenfalls — «
«Es sind unter Umständen etliche zehntausend zu allem entschlossene Fanatiker«, unterbrach Indiana sie erneut.»Und ihr könnt nicht viel gegen sie tun. Nicht, solange ein gewisser Herr mit einem Charlie-Chaplin-Bärtchen eure Soldaten rund um die Uhr beschäftigt. Was wollt ihr tun? Im Osten einen Volksaufstand niederschlagen, während Hitler ungehindert in Moskau einmarschiert? Davon abgesehen — die Nazis werden weder Mühen noch Kosten scheuen, um deine Hunnenreiter mit allem auszurüsten, was sie brauchen, um eine richtige Armee zu werden.«
Tamara schwieg.
«Ich muß dir, glaube ich, nicht erzählen, was Marcus mir noch gesagt hat«, fuhr Indiana fort.»Nämlich, daß seit gestern abend auffällig viele Männer in schwarzen Ledermänteln in der Nähe eurer Botschaft gesehen wurden. Auch wenn es dir nicht paßt, Schätzchen — du und ich sind im Moment so ziemlich die meistbegehrten Personen auf diesem Kontinent. Und wir sind auch hier nicht mehr lange sicher.«
«Hast du deinem Freund verraten, wo wir sind?«
«Nein. Aber das FBI ist nicht blöd. Sie werden nur ein paar Stunden brauchen, bis sie auf Paul kommen. Und er wird ihnen früher oder später verraten, wohin er uns gebracht hat.«
«Dann sollten wir keine Zeit verlieren und möglichst schnell an Bord eines Schiffes gehen — «
«— um wohin zu fahren?«fragte Indiana.»Selbst wenn wir an Bord eines Schiffes kommen, wird uns in jedem russischen Hafen eine ganze Armee von sowjetischen, amerikanischen und deutschen Geheimdienstleuten erwarten. Und wahrscheinlich auch noch ein paar mordlüsterne Hunnen mit langen Messern oder Gewehren. «Plötzlich lachte er.»Weißt du, wie unsere Soldaten die Nazis nennen?«
Tamara schüttelte den Kopf.
«Hunnen«, sagte Indiana.»Das paßt, nicht?«
«Ich … ich verstehe deine Verbitterung ja«, sagte Tamara mit reglosem Gesicht.»Aber auf der anderen Seite: Was hätte es geändert, wenn du das alles vorher gewußt hättest? Hättest du dann ›nein‹ gesagt?«
«Nein«, antwortete Indiana.»Aber wir hätten vielleicht alles ein bißchen besser planen können. Verdammt, Tamara, hat bei euch wirklich keiner begriffen, wie ernst die Situation ist?«
«Ich fürchte nein«, gestand Tamara.»Ehrlich gesagt: Bis gestern abend war mir selbst nicht ganz klar, in welcher Gefahr wir uns befinden.«
«Jetzt weißt du es«, grollte Indiana.»Du …«Er schluckte den Rest des Satzes herunter, blickte sekundenlang an Tamara vorbei ins Leere und gab sich dann einen sichtbaren Ruck.
«Entschuldige bitte«, sagte er.»Ich glaube, ich habe ein bißchen die Beherrschung verloren. Tut mir leid.«
Tamara nickte stumm. Indiana wußte, daß er sie verletzt hatte. Er war ungerecht — immerhin stand für Tamara eine Menge mehr auf dem Spiel als für ihn. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war ein unangenehmes Gespräch mit dem FBI oder einem hohen Regierungsbeamten. Für Tamara ging es ums nackte Überleben. Und der Großteil seines Zorns galt wohl auch ihm selbst. Er war zu diesem Abenteuer gekommen wie die berühmte Jungfrau zum Kind. Aber es war nicht Tamaras Schuld. Auch wenn dieses Unternehmen noch so dilettantisch vorbereitet gewesen war — hätte er sich die Mühe gemacht, auch nur fünf Minuten in Ruhe über das nachzudenken, was Tamara ihm erzählt hatte, dann hätte er erkennen müssen, worauf er sich da eingelassen hatte.
«Entschuldige«, sagte er noch einmal.
Tamara antwortete auch jetzt nicht; aber nach einer Sekunde bewegte sich ihre Hand über den Tisch und berührte Indianas Finger. Nur ganz kurz, aber sehr warm. Indiana lächelte dankbar, dann richtete er sich ein wenig auf, ergriff die Papiertüte neben sich und reichte sie Tamara.
«Was ist das?«fragte sie neugierig.
«Kleider«, antwortete Indiana.»Ein paar Blusen, Hosen, ein Rock …«Er zuckte mit den Schultern.»Ich hoffe, sie passen dir. Ich mußte die Größe schätzen, weißt du? Aber in den Sachen, die du anhast, kannst du nicht weiter herumlaufen.«
«Warum nicht?«Tamara sah demonstrativ an sich herab.
«Was hast du dagegen? Sie sind sehr hübsch.«
«Du siehst phantastisch darin aus«, gestand Indiana.»Aber du fällst auch auf wie ein bunter Hund.«
Tamara sah ihn verwirrt an, aber dann siegte doch die Frau in ihr: Sie öffnete die Papiertüte — und unterdrückte sichtlich im letzten Moment einen überraschten Ausruf, als sie das spitzenbesetzte Neglige erblickte, das ganz obenauf lag.»Das ist ja … herrlich«, sagte sie stockend.
Indiana runzelte die Stirn, beugte sich vor — und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, als er in die Tüte blickte.
Diese verdammte Verkäuferin! dachte er. Er hatte ihr extra gesagt, dieses Teil ganz unten in die Tüte zu legen.
«Und du meinst, damit falle ich weniger auf?«fragte Tamara grinsend.
«Du mußt es ja nicht unbedingt … hier tragen«, stotterte Indiana. Er räusperte sich.»Geh bitte nach oben und zieh dich um. Und laß dir nicht mehr zu viel Zeit.«
Tamara ignorierte seine Worte. Sie hatte begonnen, den Inhalt der Papiertüte auf dem kleinen Tischchen vor sich auszubreiten — wobei sie das Neglige, das tatsächlich nur aus Spitzen mit sehr viel Nichts dazwischen bestand, so hingelegt hatte, daß jedermann es sehen konnte. Indiana spürte, wie er noch röter wurde. Er mußte nicht aufblicken, um zu wissen, daß ihn mittlerweile die ganze Bar anstarrte. Er konnte das anzügliche Grinsen spüren, das sich auf einem Dutzend Gesichtern ausgebreitet hatte.
«Das ist ja herrlich!«sagte Tamara, während sie mit leuchtenden Augen die Schätze betrachtete, die vor ihr lagen. Indiana verstand ihre Begeisterung im ersten Augenblick nicht ganz; er hatte zwar auf einen gewissen Chic geachtet, im großen und ganzen jedoch eher praktische Kleidung gekauft. Aber dann kam ihm in den Sinn, daß Tamara wahrscheinlich seit zehn Jahren nichts als Uniformen getragen hatte.»Das muß ja ein Vermögen gekostet haben!«
«Ein halbes«, schränkte Indiana ein. Grinsend fügte er hinzu:»Keine Sorge — du wirst alles auf der Spesenabrechnung wiederfinden.«
«Das auch?«Tamara deutete auf das Negligé. Ihre Augen glitzerten spöttisch.
Indiana zog es vor, die Frage zu ignorieren.»Du solltest dich wirklich ein bißchen beeilen«, sagte er.»Unser Schiff geht in zwei Stunden. Und wir müssen uns noch irgendwie am Zoll vorbeischmuggeln.«