«Was für ein Schiff?«fragte Tamara.»Hast du mir nicht gerade erklärt, daß sie in jedem Hafen auf uns warten werden?«
«In jedem russischen Hafen«, korrigierte Indiana.»Deshalb fahren wir ja auch nach Hongkong.«
«Hongkong?«ächzte Tamara.»Aber das dauert doch Wochen!«
«Zwanzig Tage, um genau zu sein«, sagte Indiana.»Ich habe eine Kabine auf einem Teefrachter für uns gechartert. So haben wir eine echte Chance, sicher anzukommen. Von Hongkong aus kannst du versuchen, Kontakt mit deinen Leuten aufzunehmen. Außerdem habe ich Freunde dort. «Er schnitt Tamara mit einer Handbewegung das Wort ab, ehe sie überhaupt etwas erwidern konnte.
«Und jetzt beeil dich bitte. Wir haben anschließend drei Wochen Zeit, um uns zu streiten, ob meine Idee gut war oder nicht.«
Hongkong
Siebenundzwanzig Tage später gingen sie im Hafen von Hongkong von Bord, und Indiana opferte den Rest seiner ohnehin knapp bemessenen Barschaft, um einen Zollbeamten zu bestechen, damit er sie überhaupt an Land ließ.
Sie hatten sich tatsächlich ausgiebig darüber gestritten, ob seine Idee wirklich so gut gewesen war, und selbst Indiana waren nach und nach gewisse Zweifel gekommen. Der Frachter hatte auch nicht annähernd die Knotenzahl gebracht, von der der Kapitän gesprochen hatte, als er mit Indiana um die Passage feilschte; sie waren in zwei leichte und einen wirklich schweren Sturm geraten, und zu allem Überfluß hatten sie sage und schreibe drei Anläufe gebraucht, um Hongkong überhaupt zu erreichen. Ihr Schiff hatte zweimal kurz zuvor den Kurs geändert und war wieder aufs offene Meer hinausgefahren. Der Krieg, der von Europa ausgehend allmählich die ganze Welt in Brand zu setzen schien, warf auch hier seine Schatten voraus: Die japanischen Angriffe auf die Mandschurei machten die tückischen Gewässer noch gefährlicher. Strömungen und Piraten waren kein wirkliches Problem, aber um einen japanischen Zerstörerverband machte der Kapitän lieber einen großen Bogen; wofür Indiana durchaus Verständnis hatte.
Etwas weniger Verständnis hatte er dafür, daß Tamaras Verhältnis zu ihm merklich abkühlte, je länger die Fahrt dauerte.
Sie hatten es zwar schließlich aufgegeben, darüber zu diskutieren, ob seine Idee nun besonders genial oder ganz besonders dumm gewesen war, aber das schwarze Neglige bekam Indiana nur ein einziges Mal zu Gesicht; als Tamara es gewaschen und zum Trocknen in ihrer Kabine aufgehängt hatte.
Und das Pech blieb ihnen treu. Die angespannte politische Lage, der Krieg und vor allem die allgegenwärtige Angst vor einer japanischen Invasion machten es noch schwieriger als sonst, ein Hotelzimmer zu bekommen. Sie hatten das zehnte Hotel hintereinander abgeklappert, ehe Indiana sich eingestand, daß sie nur noch die Wahl zwischen zwei Extremen hatten: billigen Absteigen und Nobelherbergen, die seinen Etat auch dann überstiegen hätten, wäre er nicht zufällig pleite gewesen. Aus Rücksicht auf Tamara entschied er sich für die zweite Alternative. Sie würden ohnehin nur einen oder zwei Tage bleiben und dann Weiterreisen.
Spät am Nachmittag erreichten sie das EXCELSIOR, eines der drei vornehmsten und teuersten Hotels der Stadt. Indianas Optimismus erhielt einen ersten Dämpfer, als er die Anzahl von Automobilen und Rikschas sah, die die Straße davor bevölkerten. Und einen zweiten, weitaus heftigeren, als sie die Halle betraten.
Von Eleganz oder gar vornehmer Stille war hier nichts zu spüren. Hunderte von Menschen drängten sich in der großen Halle mit den Marmorsäulen und den Kristallüstern unter der Decke, und der Lärmpegel übertraf den des Londoner Hauptbahnhofs zur Hauptverkehrszeit. Vor der Empfangstheke drängte sich eine bunt zusammengewürfelte Menge von Leuten, die ganz offensichtlich alle dasselbe wollten wie Tamara und er: ein Zimmer. Einige schrien hysterisch, andere wedelten mit Geldscheinen, aber Indiana sah aus der Entfernung, daß die Antwort des Personals immer aus dem gleichen, bedauernden Kopfschütteln bestand. Er sparte sich die Mühe, sich in das Gedränge zu stürzen und sich blaue Flecke und wundgetretene Zehen einzuhandeln. Er wußte es auch so: daß auch in diesem Hotel kein Zimmer mehr frei war.
«Eine großartige Idee, Dr. Jones«, sagte Tamara spöttisch.
«Aber irgendwie paßt sie zu dem bisherigen Verlauf der Reise.«
Sie seufzte.»Das kommt davon, wenn man sich mit Amateuren einläßt.«
Indiana widersprach nicht einmal. So ganz unrecht hatte Tamara ja nicht. Es war weiß Gott nicht das erste Mal, daß er unfreiwillig in die Mühlen verfeindeter Geheimdienste und Agentenringe geriet, aber bisher waren solcherlei Dinge eher unerfreuliche Begleiterscheinungen seiner Arbeit gewesen. Jetzt hatte er zum ersten Mal versucht, aktiv in dem komplizierten Spiel von Betrug und Täuschung mitzuwirken — und mußte feststellen, daß er sich auf spiegelglattes Parkett begeben hatte.
«Ich dachte, du hättest Freunde in Hongkong?«fuhr Tamara fort, als Indiana nichts sagte.
«Das dachte ich auch«, murmelte Indy. Er hatte auf dem Weg hierher viermal telefoniert. Zweimal hatte er niemanden erreicht, und die beiden anderen Male hatte er feststellen müssen, daß alte Bekanntschaften nicht immer gute Bekanntschaften sein mußten.
«Ein einziger Anruf reicht, und wir haben ein Zimmer, Geld und einen fahrbaren Untersatz«, sagte Tamara.»Du weißt das.«
Ihr Vorschlag war nicht unbedingt dazu angetan, Indianas ohnehin angeschlagene Laune zu verbessern. Sie hatten über dieses Thema weiß Gott oft genug geredet. Trotzdem sagte er:»Und mit ein bißchen Pech wissen deine Freunde im gleichen Moment, wo wir sind. Und dann wäre das ganze Versteckspiel sinnlos gewesen.«
Tamara murmelte etwas, das sich wie: Das war es sowieso anhörte, aber Indiana verzichtete vorsichtshalber darauf, noch einmal nachzufragen. Zumal er spürte, daß er selbst dicht davor war, aufzugeben und auf Tamaras Vorschlag einzugehen, bei der sowjetischen Botschaft um Hilfe nachzufragen.
Er ergriff Tamara am Arm, um mit ihr die Halle wieder zu verlassen, als er glaubte, seinen Namen zu hören.
«Dr. Jones!«
Stirnrunzelnd blieb er stehen und sah sich um, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich noch, als jemand zum zweiten Mal seinen Namen rief und er den Mann eine Sekunde später sah. Er war sehr klein — kaum größer und auch nicht nennenswert breitschultriger als Tamara —, trug einen maßgeschneiderten Anzug und bewegte sich mit geradezu unheimlicher Eleganz durch die dichtgedrängte Menschenmenge in der Halle; wie es schien, ohne auch nur ein einziges Mal irgendwo anzustoßen.
Er war Japaner oder Chinese, hatte lackschwarzes, glänzendes Haar und ein Gesicht, das nur schwer auf sein Alter schließen ließ. Er mußte irgendwo zwischen dreißig und fünfzig sein.
Der Mann rief ein drittes Mal Indianas Namen, hob die Hand und kam mit raschen, aber keineswegs hastigen Schritten näher. Tamara warf Indiana einen fragenden Blick zu, den er mit einem Achselzucken beantwortete. Der Fremde war ihm völlig unbekannt. Ein leises Gefühl von Mißtrauen stieg in ihm hoch.
Trotzdem lächelte er dem Dunkelhaarigen freundlich entgegen, als dieser bis auf zwei Schritte herangekommen war und stehenblieb.
«Dr. Jones? Verzeihen Sie, wenn ich Sie so überfalle — aber Sie sind doch Dr. Indiana Jones, nicht wahr?«
Indiana nickte.»Das ist richtig. Kennen wir uns?«
Der Fremde schüttelte den Kopf, deutete eine Verbeugung an und lächelte ein undurchschaubares asiatisches Lächeln.
«Bitte verzeihen Sie meine Unhöflichkeit«, sagte er noch einmal.»Mein Name ist Moto. Toshiro Moto. Wir sind uns bisher leider noch nicht persönlich begegnet, aber ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
«So?«sagte Indiana mißtrauisch.