Indiana wich dem lebenden Wurfgeschoß mit einer raschen Bewegung aus und blieb abermals wie angewurzelt stehen, als sein Blick durch die zertrümmerte Wand ins Schlafzimmer fiel.
Tamara war nicht allein. Außer dem Burschen, der Indiana entgegengeflogen gekommen war, wurde sie von gleich zwei weiteren Gestalten in Schwarz attackiert.
Aber es sah eigentlich nicht so aus, als brauchte sie Hilfe …
Einer der beiden versuchte, in ihren Rücken zu gelangen, aber Tamara schien plötzlich auch Augen im Hinterkopf zu haben, denn sie stieß blitzartig den Ellbogen zurück, und der Kerl hatte die nächste Minute genug damit zu tun, das Atmen neu zu lernen.
Der andere versuchte, den Moment auszunutzen, und attak-kierte Tamara direkt von vorn, aber auch seine Attacke war nicht besonders erfolgreich. Tamara tauchte mit einer fast spielerisch anmutenden Bewegung unter seinem Fausthieb hindurch, steppte einen halben Schritt zurück und sprang dann fast ansatzlos in die Höhe. Wieder hörte Indiana diesen spitzen, abgehackten Schrei, und plötzlich zuckte ihr linker Fuß hoch und landete mit furchtbarer Wucht im Nacken des Angreifers.
Indiana konnte hören, wie sein Genick brach.
Tamara drehte sich in der Luft, noch bevor ihre Füße wieder den Boden berührten, und versetzte dem zweiten Mann einen Handkantenschlag gegen den Hals, der ihn wie einen nassen Sack zu Boden stürzen ließ. Das ganze hatte kaum eine Sekunde gedauert.
Eine weitere Sekunde vergeudete Indiana damit, einfach dazustehen und Tamara anzustarren. Dann breitete sich ein Ausdruck plötzlichen Erschreckens auf Tamaras Gesicht aus, während sie auf einen Punkt irgendwo hinter ihm starrte. Er begriff, daß es keineswegs vorbei war, und fuhr herum.
So wie die Sache aussah, fing es eigentlich erst richtig an.
Die Tür war aufgeflogen, und ein gutes halbes Dutzend weiterer Gestalten in schwarzen Pyjamas stürmte herein. Sie waren allesamt klein und schmalschultrig, aber dafür waren die Messer und Macheten, die sie schwangen, um so größer.
Indiana sprang mit einem Fluch zurück, sah sich wild nach seiner Peitsche um und begriff, daß er nicht an sie herankommen würde. Fast in der gleichen Sekunde sprang er mit einem entsetzten Keuchen zurück, um einem niedersausenden Schwert auszuweichen, prallte gegen die Wand und fand sich auf dem Rücken liegend draußen auf dem Flur wieder, ehe ihm wieder einfiel, daß die Wände auch in japanischen Palästen im Grunde aus nichts anderem als Papier bestanden.
Zwei der Angreifer setzten ihm nach, während sich der Rest auf Tamara zu konzentrieren schien. Vier oder fünf Bewaffnete — das erschien Indiana selbst für sie ein bißchen viel.
Er zog die Knie an den Körper, stieß sie einem der Burschen in den Leib und nutzte den Schwung der gleichen Bewegung, um sich zur Seite zu rollen, als der zweite mit einem kurzstieli-gen Beil nach ihm hackte. Die Klinge fetzte dicht neben seinem Gesicht Holzsplitter aus dem Boden. Indiana versuchte danach zu greifen, schnitt sich kräftig in die Finger und zog die Hand mit einem Fluch wieder zurück. Aus dem Zimmer hinter ihm erklang wieder Tamaras Schrei und ein doppeltes, schweres Klatschen, das ihm sagte, daß Tamara noch am Leben war, einer ihrer Gegner aber möglicherweise nicht mehr.
Er hatte wenig Zeit, sich darüber zu freuen. Der Bursche zerrte die Axt aus dem Holz und holte zu einem neuen Hieb aus, und Indiana rollte hastig zur Seite, als die Axt ein zweites Mal dort in das Holz fuhr, wo eben noch sein Gesicht gewesen war. Ungeschickt trat er nach den Beinen des Burschen, verfehlte ihn und entging um Haaresbreite einem dritten Axthieb, ehe es ihm endlich gelang, wieder auf die Füße zu kommen. Ungefähr im gleichen Moment, in dem sich auch der zweite Angreifer wieder hochrappelte und mit gezücktem Messer auf ihn losging.
Seine Lage war alles andere als rosig. Er traute sich zwar durchaus zu, mit den beiden Burschen fertigzuwerden, und der Lärm aus dem Raum hinter ihm verriet, daß Tamara zumindest noch am Leben war und sich wehrte — aber irgendwo in unmittelbarer Nähe mußte es ein Nest von diesen Burschen geben: Am Ende des Ganges tauchte schon wieder ein ganzes Rudel der Pyjamaträger auf.
Indianas Gedanken überschlugen sich, während er Schritt für Schritt vor den beiden Angreifern zurückwich.
Ganz automatisch hatte er die Männer bisher für Japaner gehalten — aber das stimmte nicht. Die etwas runden Gesichter, der um eine Spur stämmigere Wuchs … Chinesen! jetzt verstand Indiana überhaupt nichts mehr. Nicht, daß es ihn erstaunte, das Haus eines Japaners von einem chinesischen Kommando gestürmt zu sehen — aber wieso griffen sie sie an, eine Russin und einen Amerikaner, die zumindest potentiell ihre Verbündeten waren?
Indiana mußte einem Axthieb ausweichen, der nicht nur die Wand hinter ihm aufschlitzte, sondern auch den Chinesen haltlos vorwärtsstolpern ließ, denn er war offensichtlich auch nicht an derartig instabile Wände gewöhnt. Indiana beförderte ihn mit einem kräftigen Ellbogenstoß ganz hindurch, wandte sich dem zweiten zu und versuchte, ihm das Messer zu entringen. Es gelang ihm nicht ganz. Der Bursche zappelte wie wild in seinem Griff — und erschlaffte dann ganz plötzlich. Reglos sank er in Indianas Armen zusammen. Aus seinem Nacken ragte der Griff des Messers, das einer der anderen Kerle nach Indiana geschleudert hatte.
Indiana packte den Toten, warf ihn den heranstürmenden Chinesen entgegen und gewann kostbare Sekunden, in denen sich der Gang vor ihm in ein Durcheinander aus ineinander verschlungenen Gliedern, Leibern und allen möglichen Hiebund Stichwaffen verwandelte. Er nutzte sie, um dem benommenen Chinesen neben sich die Axt zu entringen (die er ihm eine Viertelsekunde später mit der flachen Seite vor die Schläfe schlug, um ihn endgültig ins Land der Träume zu befördern) und sich hastig wieder aufzurichten.
Drei der Chinesen hatten das leider mittlerweile auch getan.
Auf ihren Gesichtern war im Moment nicht sehr viel von der sprichwörtlichen asiatischen Freundlichkeit zu sehen.
Indiana packte die Axt fester und überschlug seine Chancen, mit dem Leben und möglichst noch unverletzt davonzukommen. Sie standen nicht sehr gut.
Trotzdem wehrte er sich wacker. Einige Augenblicke lang schaffte er es sogar, das halbe Dutzend Pyjamaträger mit wuchtigen Axthieben in die leere Luft vor sich herzutreiben, aber dann kam es, wie es kommen mußte: Einer der Burschen gelangte hinter seinen Rücken und versetzte ihm einen furchtbaren Hieb in den Nacken. Indiana sah nur noch bunte Sterne. Er fiel auf die Knie. Sein Mund füllte sich mit Blut. Die Axt entglitt seinen plötzlich kraftlosen Fingern. Wie durch einen Vorhang aus blutgetränkter Watte sah er eine Gestalt über sich aufragen, die ein kurzes Schwert schwang.
Der tödliche Hieb kam nicht.
Alles Blut wich mit einem Mal aus dem Gesicht des Chinesen; dafür erschien eine Menge davon auf seinem Hals. Er stürzte und drehte sich dabei halb um die eigene Achse, so daß Indiana den fünf zackigen Shuriken sehen konnte, der sich in seinen Nacken gegraben hatte.
Daß Indiana die nächsten Sekunden überlebte, lag wohl einzig und allein daran, daß die Chinesen schlagartig jedes Interesse an ihm verloren und sich den neu aufgetauchten Gegnern zuwandten. Indiana konnte sie nicht richtig erkennen, denn er kämpfte noch immer mit aller Kraft darum, nicht das Bewußtsein zu verlieren, aber auf dem schmalen Gang vor ihm schien eine regelrechte Schlacht zu entbrennen. Er hörte Schreie, Schläge, das dumpfe Aufschlagen von stürzenden Körpern und den schrecklichen Laut von Stahl, der durch Stoff und Fleisch schnitt. Offensichtlich waren Motos Soldaten endlich auf der Bildfläche erschienen.
Aber wo war Tamara geblieben? Mühsam stemmte er sich auf die Füße und warf einen Blick auf das Chaos vor sich, als er ihren Schrei hörte.