Was er über die Brutalität der japanischen Besatzer gehört hatte, schien nicht ganz falsch zu sein.
Sie betraten das Haus und durchquerten eine weite, holzgetäfelte Halle, die einmal prachtvoll gewesen sein mußte. Jetzt war sie in ein Militärlager umgewandelt worden und sah dementsprechend aus: Überall standen Feldbetten, lagen zusammengerollte Schlafsäcke, Rucksäcke und Gewehre, und jemand war sogar so weit gegangen, auf dem sorgsam polierten Holzfußboden ein Feuer zu entzünden, um sich sein Essen darüber aufzuwärmen. Indianas Archäologenherz machte einen entsetzten Hüpfer, als er diesen Frevel sah. Aber er schwieg auch jetzt. In Gedanken fügte er diese Beobachtung jedoch der immer länger werdenden Liste unangenehmer Fragen hinzu, die er Moto stellen würde, sobald sie allein waren.
Ein weiterer Soldat vertrat ihnen den Weg, und die Szene vom Eingang wiederholte sich, mit dem Unterschied, daß der Posten diesmal nicht beiseite trat, sondern auf einen knappen Befehl Motos hin herumfuhr und ihnen mit nervösen Schritten vorauseilte. Über eine breite Treppe mit einem kunstvoll geschnitzten Geländer gelangten sie in den ersten Stock des Gebäudes, wo sie eine weitere Sperre passieren mußten, ehe sie einen großen Raum betraten, der bis auf einen riesigen Tisch und einen dazu passenden, fast an einen Thronsessel erinnernden Stuhl vollkommen leer war. An den Wänden hing die japanische Flagge, der rote Kreis der aufgehenden Sonne auf weißem Untergrund, in gleich fünffacher Ausführung, und direkt hinter dem Schreibtisch prangte eine Karte Chinas. Die von den Japanern besetzten Gebiete waren rot schraffiert. Es waren erstaunlich viele, und Indiana erschrak insgeheim. Er hatte nicht gewußt, wie sehr sich dieses riesige Land bereits im Besitz seines an sich zwergenhaften Nachbarn befand.
Hinter dem Schreibtisch saß ein kahlköpfiger Japaner in einer schmucklosen grünen Uniform. Vor ihm stapelten sich Papiere, Briefe und altertümlich anmutende Schriftrollen. Er hatte eine brennende Zigarette im Mundwinkel, und um sein linkes Handgelenk spannte sich ein frischer Verband, an dem sich an einer Stelle dunkle Blutflecke zeigten. Quer auf dem Durcheinander von Papieren vor ihm lag ein Samurai-Schwert, daneben entdeckte Indiana einen Dolch, den er kurzerhand in die kostbare Platte des Tisches gerammt hatte. Seine Augen schienen Blitze zu schleudern, als Moto, Indiana und der Diener ohne anzuklopfen eintraten. Er erhob sich halb von seinem Stuhl, bellte ein einzelnes, nicht sehr angenehm klingendes Wort und streckte die Hand nach dem SamuraiSchwert aus.
Der Soldat, der sie hier heraufgeführt hatte, antwortete rasch, mit leiser Stimme und sehr nervös — und der Offizier erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Augen weiteten sich ungläubig, die Zigarette fiel ihm aus dem Mundwinkel und landete in seinem Schoß. In der ersten Sekunde schien er es nicht einmal zu bemerken, dann fegte er sie hastig beiseite und kam mit kleinen, demütigen Schritten um den Schreibtisch herum. Moto reichte ihm das Stück Papier, das er schon dem Posten am Eingang gezeigt hatte, und der Kahlkopf schien sich für einige Sekunden in einen Europäer zu verwandeln, denn seine Haut verlor jedes bißchen Farbe. Wer zum Teufel war dieser Kerl? dachte Indiana verwirrt. Der Tenno persönlich?
Moto fuhr fort, auf japanisch mit dem Soldaten zu reden, wobei er abwechselnd auf sich, Indiana und seinen Diener deutete, und der Kahlkopf antwortete mit wenigen, halb geflüsterten Worten und gesenktem Blick, als wage er es nicht einmal, sein Gegenüber anzusehen.
Als er fertig war, drehte sich Moto herum und wandte sich an Indiana.»Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte er.»Major Hondo wird Schenjang morgen früh mit der Hälfte seiner Soldaten verlassen, um zu der Truppe zu stoßen, die gegen Dzo-Lin vorgeht.«
Indiana brannte die Frage auf der Zunge, ob es irgendwelche Neuigkeiten über Tamara gab, aber natürlich konnte er sie nicht stellen.
Moto schien sie von seinen Augen abzulesen.»Gerüchte besagen, daß man eine Europäerin bei den Rebellen gesehen hat«, sagte er.»Aber wie gesagt — das sind Gerüchte. Und Miss Jaglova ist nicht die einzige Nicht-Chinesin hier.«
Er wandte den Kopf, wechselte wieder einige Worte mit dem Offizier und richtete seinen Blick dann wieder auf Indiana. Er wollte etwas sagen, aber in diesem Moment entstand vor der Tür Tumult.
Hondo blickte ärgerlich auf und fuhr den Soldaten an, doch bevor dieser seinen Befehl ausführen konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und ein halbes Dutzend Soldaten kam herein. Bei ihnen befanden sich die beiden Männer in den braunen Kutten, die Indiana schon draußen auf der Straße gesehen hatte.
Sowohl er als auch Moto bemerkten, wie Hondo erschrocken zusammenfuhr. Zwar fand der Major seine Selbstbeherrschung fast sofort wieder, aber Moto hatte bereits bemerkt, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Ruhig, aber mit der gleichen, befehlsgewohnten Kälte in der Stimme, die auch Indiana schon so beeindruckt hatte, wandte er sich an die Soldaten, die die beiden Gefangenen hereingebracht hatten, und stellte einige Fragen. Die Antworten, die er bekam, schienen nicht unbedingt seinen Gefallen zu finden, denn der Klang seiner Stimme wurde plötzlich schärfer. Fordernd deutete er auf die beiden Männer, die von ihren Bewachern grob auf die Knie herabgestoßen worden waren. Indiana sah jetzt, daß ihre Gesichter etwas schärfer geschnitten waren als die eines normalen Chinesen. Auf ihren Handrücken und zwischen den Augen befanden sich winzige, violette Tätowierungen, und über der linken Schulter trugen beide Männer eine erdbraune Schärpe, die sich kaum von der Farbe ihres Gewandes abhob.
Moto wandte sich jetzt an die beiden. Er bekam keine Antwort, und einer der Soldaten rammte dem kleineren der beiden Männer seinen Gewehrkolben zwischen die Schulterblätter.
Der Gefangene fiel mit einem schmerzerfüllten Keuchen nach vorn, und Moto fuhr den Mann, der ihn geschlagen hatte, in so scharfem Ton an, daß dieser zurückfuhr, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.
Es gelang Indiana, Moto einen fragenden Blick zuzuwerfen, und zu seiner Überraschung reagierte der Samurai sogar darauf.
«Die beiden sind tibetische Spione«, sagte er.»Jedenfalls behaupten das diese Narren. Sie wollen sie erschießen. «Er zuckte gleichmütig mit den Achseln.»Im Grunde habe ich nichts dagegen. Aber vielleicht können uns die beiden — «
Einer der beiden Gefangenen — der, der nicht geschlagen worden war — sagte ein halblautes, einzelnes Wort, und Moto brach mit einem überraschten Ausdruck ab. Eine Sekunde lang sah er den Mann forschend an, dann trat er auf ihn zu, stellte eine Frage, und obwohl Indiana die Antwort ebensowenig verstand wie die Frage selbst, identifizierte er doch das gleiche Wort, das er soeben gehört hatte, gleich mehrfach. Die beiden unterhielten sich eine ganze Weile, und der überraschte, aber auch ein wenig mißtrauische Ausdruck auf Motos Gesicht vertiefte sich. Schließlich wandte er sich mit einem Stirnrunzeln wieder an Indiana.»Er sagt etwas von einem Zauberschwert«, sagte er verwirrt.
Zauberschwert! Indiana wurde hellhörig. Um ein Haar hätte er das Wort laut ausgesprochen, biß sich aber im allerletzten Moment noch auf die Zunge.
Aber auch Moto wirkte plötzlich genauso erregt wie er. Mit einer heftigen Handbewegung befahl er den Soldaten, den beiden auf die Füße zu helfen, scheuchte die Männer aus dem Raum und brachte Hondo, der sich hatte einmischen wollen, mit einer zornigen Geste zum Verstummen.
Er und die beiden Tibeter unterhielten sich eine ganze Weile; in einem Dialekt, der nicht nach Japanisch klang, Indiana aber natürlich ebenso unverständlich war. Motos Erstaunen nahm sichtlich zu, und ein paarmal warf er auch Indiana überraschte Blicke zu- ebenso wie die beiden Mönche übrigens, wenn diese auch weniger überrascht als wissend wirkten. Indiana verfluchte die Tatsache, daß er der Sprache, derer sich die drei bedienten, nicht einmal in Ansätzen mächtig war. So mußte er sich darauf beschränken, aus Mimik und Gesten der drei zu schließen, was sie vielleicht sagten.