Hondo ist der Befehlshaber dieser Garnison, und er hat entschieden, Dzo-Lins Lager mit einem schnellen, harten Schlag zu treffen und zu vernichten.«
«Reden Sie keinen Unsinn, Mann!«sagte Indiana zornig.
«Sie könnten ihn davon abhalten.«
«Vielleicht«, gestand Moto nach kurzem Überlegen.»Aber ich bin nicht sicher, ob ich das sollte.«
«Wieso?«
«Sie mißverstehen noch immer die Lage, in der wir uns befinden, Dr. Jones«, antwortete Moto.»Sie und ich, wir sind hier, um das Schwert zu finden und möglichst auch noch Miss Jaglova zu befreien. Aber in diesem Land herrscht Krieg. Und General Dzo-Lin und seine Räuberarmee fügen unseren Truppen seit Monaten schwere Schäden zu. Die Zahl ihrer Opfer geht in die Hunderte, wenn nicht Tausende. Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, die vielleicht einzige Chance, ihn zu stellen, aufs Spiel zu setzen, nur um ein einzelnes Menschenleben zu retten.«
«Wenn das so ist«, sagte Indiana zornig,»dann vergessen Sie unsere Abmachung, Moto! Sollte Tamara etwas zustoßen, erfahren Sie von mir kein Wort, das schwöre ich Ihnen!«
«Das wäre bedauerlich«, antwortete Moto,»aber nicht zu ändern. Major Hondo wird morgen früh aufbrechen, und bei Sonnenaufgang des nächsten Tages beginnt der Angriff auf Dzo-Lins Lager. Aber ich kann Hondo nicht befehlen, seine Flugzeuge nicht zu starten, nur weil ich Lust dazu habe. Er würde diesen Befehl verweigern — und zu Recht.«
Es dauerte fast eine Sekunde, bis Indiana überhaupt begriff, was Motos Worte wirklich bedeuteten.»Flugzeuge?«wiederholte er erschrocken.»Sie meinen … diese Narren haben einen Luftangriff auf das Lager vor?«
«Sie wären Narren, wenn sie das nicht vorhätten«, erwiderte Moto gelassen.»Dzo-Lins Bande hat sich in einem Tempel in den Bergen verschanzt, der so gut wie uneinnehmbar ist. Wie soll ich Hondo erklären, daß er seine Flugzeuge am Boden lassen und statt dessen fünfhundert oder auch tausend seiner Männer ins MG-Feuer der Rebellen schicken soll?«
«Aber damit bringen Sie Tamara um!«sagte Indiana aufgebracht.
«Ich weiß«, antwortete Moto ruhig.»Es herrscht Krieg.«
Indiana schloß in hilflosem Zorn die Augen. Er wußte, daß jedes weitere Wort sinnlos war. Sie waren nicht einfach nur zwei — potentielle — Gegner, die miteinander redeten. Was hier aufeinanderprallte, das waren zwei Welten, zwei grundverschiedene Denkweisen, die so wenig miteinander gemein hatten, daß ihre beiden Völker ebenso gut auf zwei verschiedenen Planeten hätten leben können.
«Verzeiht, wenn ich mich einmische, göttlicher Sohn«, sagte Lobsang vom Boden aus. Indiana und Moto blickten beide zu ihm herab.
«Was hast du jetzt wieder vor?«fragte Moto verächtlich.
«Soll ich einen Boten zu Dzo-Lin schicken und ihn zum Zweikampf herausfordern?«
Lobsang tat, was er immer tat, wenn er angesprochen wurde — er lächelte, und Indiana las auf Motos Gesicht ab, daß dieses Lächeln allmählich auch an seinen Nerven zu zerren begann.
«Das wäre kein kluger Einfall«, sagte er, als hätte er Motos Vorschlag ernsthaft erwogen.»Mein Bruder Tsangpo und ich sahen in unserer Vision auch General Dzo-Lin, den weißen Doktor und Euch, göttlicher Sohn. Aber wir sahen keine Armee.«
Moto schnaubte verächtlich.»Na, wunderbar!«sagte er.»Dann werden wir diese Bergfestung am besten allein stürmen und — «
«Aber natürlich!«unterbrach ihn Indiana. Moto wirbelte auf dem Absatz herum und starrte ihn zornbebend an, aber Indiana gab ihm keine Gelegenheit, etwas zu sagen, sondern deutete zuerst auf den knienden Tibeter, dann auf Moto und sich selbst.»Exakt das ist die Lösung!«
«Wie bitte?«fragte Moto in einem Ton, der klarmachte, daß er an Indianas Verstand zweifelte.
«Natürlich nicht nur Sie und ich, Moto«, antwortete Indiana.»Aber ich bin sicher, daß Major Hondo nichts dagegen hätte, General Dzo-Lin lebendig in die Hände zu bekommen.«
«Das ist unmöglich«, sagte Moto impulsiv, wurde aber schon wieder von Indiana unterbrochen.
«Das ist es nicht!«sagte Indiana überzeugt.»Überlegen Sie doch! Wenn dieses Felsenkloster wirklich so uneinnehmbar ist, wie Sie behaupten, dann fühlt sich Dzo-Lin wahrscheinlich sehr sicher. «Er überlegte sich seine nächsten Worte sehr genau.»Aber wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was ich über Ihre Krieger und vor allem die Samurai gehört habe, Mr. Moto, dann gibt es keinen Ort, an dem man vor ihnen sicher ist.«
Moto entging keineswegs der Umstand, daß diese Worte wenig mehr als eine Schmeichelei waren. Aber Indianas Rechnung ging trotzdem auf; er war einfach zu sehr Japaner, um den Köder nicht zu schlucken, auch wenn er den Haken darin sehen mußte.»Sie meinen …«, begann er.
«Ich meine, daß Sie und ich jetzt zu Major Hondo gehen und ihm folgenden Vorschlag unterbreiten sollten«, sagte Indiana.»Er soll seinen Angriff um einige Stunden verschieben. Nur lange genug, daß Sie und ich und allenfalls noch eine Handvoll ausgesuchter Männer in dieses Kloster eindringen und General Dzo-Lin selbst gefangennehmen können. Vielleicht vermeiden wir auf diese Weise sogar überflüssiges Blutvergießen. Wenn Dzo-Lin tatsächlich ein so berühmter und wichtiger Mann ist, dann geben seine Anhänger vielleicht auf, wenn wir ihn gefangennehmen.«
«Das ist Wahnsinn«, murmelte Moto. Aber er klang nicht sehr überzeugt.
«Nein«, widersprach Indiana.»Es ist wahrscheinlich Tamaras einzige Chance, am Leben zu bleiben. «Nach einer winzigen Pause fügte er hinzu:»Und Ihre, dem Schwert des Dschingis Khan auch nur nahe zu kommen.«
Das gab den Ausschlag. Moto druckste noch einen Moment lang herum, aber dann zwang er sich zu einem abgehackten Nicken.»Ich werde mit Hondo reden«, sagte er.»Aber noch eines, Dr. Jones: Wenn es mir gelingt, Ihre Bedingung zu erfüllen, dann sind wir quitt, wie Ihr Amerikaner sagt. Ich fühle mich von meinem Ehrenwort entbunden und verlange, daß Sie mir Miss Jaglovas Aufzeichnungen aushändigen und anschließend Ihrer Wege gehen.«
Es fiel Indiana nicht besonders schwer, auf dieses Ansinnen mit einem Nicken zu antworten. Mit einer einzigen Ausnahme — nämlich der, Moto Tamaras Aktenmappe ganz gewiß nicht auszuhändigen — hatte er sowieso genau das vorgehabt. Und was Motos Ehrenwort anging … Ob Moto sich nun dem Bushido verpflichtet fühlte oder nicht — Indiana hatte ohnehin das Gefühl, es niemals wirklich gehabt zu haben.
Die Große Mauer. Ein Militärlager nahe der mongolischen Grenze, am nächsten Morgen
Obwohl Indiana viel herumgekommen war, war es das erste Mal, daß er die Chinesische Mauer sah. Und trotz der alles andere als glücklichen Umstände, unter denen dies geschah, war der Anblick so beeindruckend und erhebend, wie er ihn sich vorgestellt hatte.
Dabei konnte er nicht einmal besonders viel davon erkennen, als er am nächsten Morgen hinter Moto aus dem kleinen Flugzeug stieg, das ihn selbst, Hondo und die beiden Tibeter hergebracht hatte. Seine Knie zitterten, und ihm war noch immer flau im Magen. Der Flug war alles andere als ruhig gewesen. Auch das Wetter schien sich auf die Seite der Chinesen geschlagen zu haben, und die Landung war ein Abenteuer für sich gewesen, denn die Piste war keine Landebahn, sondern nichts anderes als ein nur notdürftig von Felsen und Baumstämmen freigeräumtes Stück Wiese im Schatten der Mauer. Zu allem Überfluß war in den letzten zehn Minuten auch noch leichter Bodennebel aufgekommen.
Aber er vergaß all das, als er aus dem Flugzeug trat und die Mauer sah. Der Anblick war … unbeschreiblich.
Es war nicht einmal so sehr die Größe, die Indiana in ihren Bann schlug. Trotz ihrer Länge von mehr als sechstausend Kilometern war die Große Mauer weniger hoch als die meisten annahmen. Indiana schätzte, daß der Wall aus Felsblöcken und Ziegeln, der sich auf der anderen Seite der improvisierten Landebahn im Nebel verlor, an keiner Stelle höher als acht Meter war. In schwer zu bestimmender Entfernung lösten sich die Umrisse eines Wachtturmes im bleigrauen Schimmer des Nebels auf, auch er keinesfalls größer als zehn oder zwölf Meter; jedes kleinere Kastell in England oder Europa konnte mit eindrucksvolleren Maßen aufwarten. Nein, was er spürte, das war etwas anderes. Es war die Größe dieser Mauer, aber es war eine Größe, die man nicht sehen konnte. Es war ein Gefühl, das Indiana Jones nicht fremd war; er hatte es oft gespürt, wenn er uralte Orte betrat, Bauwerke, die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende vor dem Beginn der Zeitrechnung errichtet worden waren und mit der stummen Geduld von Bergen das Kommen und Gehen ganzer Zivilisationen gesehen hatten. Diese Mauer war alt, uralt. Ganze Völker hatten mehr als ein Jahrtausend an ihrer Fertigstellung gearbeitet, und es war, als spürte er etwas von dem Geist, der diese Menschen beseelt hatte, von der Kraft und der schier unerschöpflichen Energie, die sie in ihre Errichtung gesteckt hatten. Dieser ungeheuerliche Steinwall strahlte eine Majestät und Ruhe aus, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Es spielte keine Rolle, ob der große Wall die mongolischen Heerscharen daran gehindert hatte, in das Reich der Chinesen einzufallen oder nicht. Was wichtig war, war die Tatsache seiner Errichtung, sonst nichts.