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Er hörte Schritte hinter sich und spürte, daß es Moto war, ohne sich umdrehen zu müssen.»Erstaunlich, nicht?«fragte der Japaner. Indiana sah ihn auch jetzt nicht an. Sein Blick folgte den im Nebel verschwimmenden Konturen der Mauer.

Erstaunlich …? Nein, es war kein Staunen, das er empfand.

Es war etwas anderes. Etwas, das Menschen schon immer gekannt und noch nie wirklich in Worte hatten fassen können.

Das Gefühl, das sie dazu brachte, an das Wirken einer übergeordneten Macht zu glauben.

«Was empfinden Sie, Dr. Jones?«fragte Moto, als hätte er seine Gedanken gelesen.

«Ich finde es … beeindruckend«, sagte Indiana, nachdem er eine Sekunde lang vergeblich nach einer wirklich passenden Bezeichnung gesucht hatte. Er sah Moto nun doch an, aber er gewahrte auf seinem Gesicht keine Spur der Ehrfurcht, die er selbst empfand. Nicht einmal Respekt vor der unvorstellbaren Leistung jener Menschen, die die Mauer errichtet hatten.»Sie nicht?«fragte er wider besseres Wissen.

Moto zuckte mit den Schultern.»Vielleicht«, sagte er.»Ja, in gewisser Weise schon. «Mit einem Lächeln fügte er hinzu:»Wir werden sie niederreißen.«

Indiana sah ihn verwirrt, aber auch erschrocken an.»Wie bitte?«

«Vielleicht auch nicht«, sagte Moto.»Oder vielleicht doch — um sie an einer anderen Stelle wieder aufzubauen. «Er lächelte.»Wer weiß?«

Indiana schluckte alles, was ihm auf der Zunge lag, herunter.

Er war nicht sicher, ob Moto das wirklich so meinte oder ob er ihn nur reizen wollte. Ihr Verhältnis hatte sich seit dem vergangenen Abend unmerklich, aber gründlich geändert. Es war, als hätte Moto eine Maske fallengelassen, hinter der möglicherweise nur eine andere Maske zum Vorschein kam, allerdings eine, die dem wirklichen Moto mehr ähnelte als das, was er Indiana bisher vorgespielt hatte. Er hatte wohl begriffen, daß Indy ihm trotz allem niemals wirklich getraut hatte. Vielleicht sah er allmählich ein, daß das Theaterspielen wenig Sinn hatte.

Mit einer energischen Geste wechselte Moto das Thema und deutete auf einen Punkt, der vielleicht einen halben Kilometer nördlich lag. Indiana sah das weiße Schimmern von Zelten und die roten Punkte zahlreicher, bis auf die Glut heruntergebrannter Feuer, die vom Nebel erstickt zu werden schienen. Er erschrak abermals. Moto hatte ihm erzählt, daß Hondo bereits damit begonnen hatte, Truppen für den bevorstehenden Angriff auf Dzo-Lins Felsenfestung zusammenzuziehen. Aber was er dort sah, das war keine kleine Truppe — es war eine Armee.

Er wollte eine entsprechende Bemerkung machen, aber in diesem Moment hörte er hinter sich das Geräusch von Schritten, und Moto machte eine rasche, erschrockene Geste. Allmählich begann die Geschichte mit dem Schweigegelübde lästig zu werden, dachte Indiana. Er würde sich eine überzeugende Begründung einfallen lassen müssen, dieses Gelübde zu brechen. Der Umstand, nicht reden zu dürfen, verschaffte ihm entschieden mehr Nachteile als Vorteile. Im Grund war er Moto hilflos ausgeliefert — und ganz genau das hatte diese Geschichte ja auch bewirken sollen. Indiana verfluchte sich in Gedanken dafür, auf diesen Trick hereingefallen zu sein.

Hondo, die beiden Tibeter und der Pilot des Flugzeuges erschienen in der Tür und sprangen in das taufeuchte Gras hinab.

Lobsang und Tsangpo betrachteten die Mauer auf eine Weise, die Indiana davon überzeugte, daß dieser Anblick absolut nichts Ungewöhnliches für sie hatte. Flüchtig fragte er sich, wieso keiner von ihnen bisher auch nur auf den Gedanken gekommen war, sich genauer nach der Herkunft und den eigentlichen Absichten der beiden angeblichen Mönche zu erkundigen. Dann traf ihn ein Blick aus Lobsangs (lächelnden) Augen, und der Gedanke verschwand aus seinem Bewußtsein, als hätte es ihn nie gegeben.

Nebeneinander gingen sie auf das Heerlager zu, aus dem ihnen eine Abordnung japanischer Soldaten entgegenkam. Hondo schien die Männer mit einem Funkspruch über ihr Kommen informiert zu haben, denn sie behandelten ihn und vor allem Moto mit geradezu kriecherischer Demut, die Indiana nach den Ereignissen der vergangenen Tage beinahe schon lächerlich erschien. Während Hondo und Moto Fragen auf japanisch stellten und Antworten in der gleichen Sprache bekamen, sah sich Indiana aufmerksam im Lager um. Seine allererste Schätzung, die Zahl der Männer betreffend, schien ein wenig zu hoch ausgefallen zu sein. Es gab zwar eine erstaunliche Anzahl von Zelten und kleinen, hastig aus Baumstämmen und Geäst errichteten Hütten, aber sehr viele davon waren leer. Dieses Lager war auf Zuwachs gebaut. Er vermutete, daß Major Hondo nicht unbedingt vorhatte, seine Truppe von diesem strategisch wichtigen Punkt wieder abzuziehen, nachdem das Kapitel Dzo-Lin abgehakt war. Nicht zum ersten Mal fragte sich Indiana, wie es ein so kleines Land wie Japan überhaupt geschafft hatte, China praktisch im Handstreich zu nehmen. Wie immer fand er keine befriedigende Antwort darauf.

Sie wurden in eines der größten Zelte geführt, das als provisorisches Hauptquartier diente. Die Einrichtung entsprach genau Indianas Vorstellung: Auf einem gewaltigen Tisch in der Mitte des Zeltes lagen Dutzende von Karten und Aufmarschplänen, dahinter hockte ein Soldat vor einem Funkgerät. Einige unbequem aussehende Klappstühle vervollständigten die spartanische Möblierung des Zeltes.

Von einem seiner ausgeprägtesten Charakterzüge — der Neugier — getrieben, trat Indiana an den Tisch. Er war ihm nicht einmal auf zwei Schritte nahe gekommen, als er grob gepackt und derb zurückgerissen wurde. Im selben Augenblick richtete sich ein halbes Dutzend Gewehrläufe auf ihn.

Moto rief einen scharfen Befehl, worauf die Soldaten — wenn auch nur zögernd — ihre Waffen senkten.

«Bitte rühren Sie nichts an, Dr. Jones«, sagte Moto beinahe beschwörend.»Und am besten sehen Sie auch nichts an, was man Ihnen nicht eindeutig anzusehen erlaubt hat. Sie spüren ja selbst, wie nervös hier alle sind. «Ungeachtet dieser verständnisvollen Worte fuhr er herum und schrie den Kommandanten der Wachmannschaft so aufgebracht an, daß diesem jede Farbe aus dem Gesicht wich.

Indiana hatte begriffen. Er kehrte zu Lobsang und Tsangpo zurück, die etwas klüger als er gewesen und unmittelbar hinter dem Eingang des Zeltes stehengeblieben waren.

Eine gute Stunde verging, ohne daß ihnen irgend jemand auch nur die geringste Aufmerksamkeit zollte. Moto, Major Hondo und der Kommandant dieses Lagers steckten die Köpfe über den Karten zusammen, um lautstark Kriegsrat zu halten.

Die sporadischen Blicke, die sie in seine Richtung warfen, gefielen Indiana nicht, und er war nicht einmal sonderlich überrascht, als Moto nach Ablauf dieser Stunde mit sorgenzerfurchter Stirn zu ihm zurückkam.